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Titelthema

„Natürlich gibt es eine gemeinsame Verantwortung“

Titelthema - „Natürlich gibt es eine gemeinsame Verantwortung“
Hochsee-Segelboot mit Ausleger, Insel Luf (1890–1895) Bei längeren Fahrten auf das offene Meer konnte das 16 Meter lange Luf-Boot bis zu 50 Personen befördern. © bpk/ethnologisches museum/smb/waltraut schneider-schütz, andreas labes

Sollte das Luf-Boot im Humboldt-Forum ausgestellt werden? Und ist Restitution der einzige Weg der Wiedergutmachung?
Ein Gespräch mit dem Historiker und Bestsellerautor Götz Aly.

Götz Aly01.09.2021

Ihr jüngstes Buch über eines der Paradestücke der ethnografischen Sammlungen in Berlin, das „Prachtboot“ von der Insel Luf, schlug wie eine Bombe in die Vorbereitungen zur Wiedereröffnung im neuen Humboldt-Forum ein. Folgt man Ihrer Argumentation vom unrechtmäßigen, ja mörderischen Erwerb, dann stellt sich doch die Frage: Darf man dieses Boot jetzt dort ausstellen, oder sollte man es nicht besser wieder entfernen? Wobei sich die Frage sofort anschließt: Wohin mit dem Boot?

Das Boot soll unbedingt gezeigt werden. Es ist einzigartig und gehört zum Weltkulturerbe. Anders als vor dem Erscheinen meines Buches vorgesehen, sollten die Betrachter auch mit den kolonialgeschichtlichen Hintergründen konfrontiert werden, die sich an diesem Prachtobjekt sehr gut darstellen lassen. Ich bin gespannt, wie die Verantwortlichen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz dieses Thema behandeln werden: offensiv, deutlich, verschämt, halb verborgen, verbunden mit neuen Beschönigungen? Ich weiß es nicht. Wir werden es sehen, wenn die ethnologische Ausstellung am 22. September eröffnet wird.


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Sie spielen am Ende des Buches mit dem Gedanken, die Mauern im Humboldt-Forum wieder aufreißen zu lassen und das Boot durch dasselbe Loch wieder zu entfernen, durch das es dort eingebracht wurde. Diese Idee hat ein enormes Echo ausgelöst, viel größer als Sie selbst vielleicht vermutet haben.

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Detail des Auslegerboots, Insel Luf (1890–1895), Ausleger zur Stabilisation: Um das hochseetüchtige Luf-Boot je nach Wind zusätzlich zu stabilisieren, bewegte sich die Besatzung an verschiedene Stellen des Schiffes © Ragnar Schmuck

In meinem Buch steht, dass es noch Jahrzehnte dauern kann, bis der Staat Papua-Neuguinea oder wichtige gesellschaftliche Vereinigungen dort die Forderung nach Rückgabe erheben. Aus meiner Sicht besteht kein Grund zur Eile. Jedoch sollten wir uns nicht länger als angeblich „rechtmäßige Eigentümer“ verstehen, sondern als Treuhänder. Das verpflichtet auch zu besonderer Sorgfalt, zur Einstellung von Fachkräften zur Restaurierung und Bewahrung der unter insgesamt sehr fragwürdigen Umständen herbeigeschafften Objekte. Ich fände es gut, wenn Deutschland die Kuratoren des Nationalmuseums von Papua-Neuguinea einladen würde, im Humboldt-Forum eine Ausstellung mit ihren eigenen Objekten zu machen. Bei dieser Gelegenheit könnten Ethnologen, Geschichtswissenschaftler und Aktivisten aus Papua-Neuguinea feststellen, was ihnen fehlt. Aus einem solchen Projekt würden sich dann Gespräche darüber entwickeln, welche Objekte in die ehemalige deutsche Kolonie zurückgegeben werden sollten und welche bis auf Weiteres in Berlin bleiben können. Ich stelle mir das als offenen, langjährigen Prozess vor. Dabei sollte man nicht ausschließen, dass am Ende solcher Kooperationen und Gespräche auch der Rücktransport des berühmten Luf-Bootes zur Debatte steht und dafür eine Mauer im Humboldt-Forum aufgebrochen werden muss.

In Ihrem Buch erscheint das Luf-Boot als Paradefall für das, was wir heute koloniale Raubkunst nennen. Aber Sie räumen selbst ein, keinen eindeutigen Beweis für einen unrechtmäßigen Erwerb dieses Bootes durch den damals im Südseehandel tätigen Hamburger Überseekaufmann Eduard Hernsheim gefunden zu haben.

Bisher haben die Verantwortlichen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und des zu dieser Stiftung gehörenden Berliner Ethnologischen Museums hartnäckig behauptet, das Boot sei den Leuten auf der Insel Luf „abgekauft“ worden. Dafür gibt es keinerlei Beweis. Angesichts des seinerzeit bestehenden, vom deutschen Staat organisierten kolonialen Gewaltregimes müsste die Stiftung Preußischer Kulturbesitz den Beweis für einen redlichen Erwerb erbringen – nicht ich und schon gar nicht der Staat Papua-Neuguinea. Im Übrigen gilt die allgemeine Lebenserfahrung: Wenn ein Räuber seine Beute gewinnbringend verkauft, pflegt er sein Angebot nicht mit dem folgenden Warnhinweis zu versehen: „Achtung! Es handelt sich übrigens um hinterhältig beigebrachtes Raubgut!“ Typisch für den europäisch-kolonialistischen Museumsbetrieb ist eben, dass seit mehr als 100 Jahren niemand gefragt hat und fragen wollte, wie genau die einzelnen Kulturobjekte der unterworfenen Völker, Stämme und Dorfgemeinschaften gesammelt, zusammengerafft und geraubt wurden.

Ihr Buch ist ein großer Publikumserfolg geworden, auf den Sie zu Recht stolz sind. Gleichwohl gibt es aus der „scientific community“ auch Widerspruch, vor allem was die zentrale Rolle Eduard Hernsheims betrifft, den Sie als skrupellosen Kolonialhändler darstellen, der das Boot im „Vollgefühl kolonisatorischer Allmacht (...) an sich gerissen“ habe. Man schaue am Beispiel des Luf-Boots in die „düsteren Abgründe deutscher Gewaltpolitik“, schreiben Sie. Sein Biograf Jakob Anderhandt schildert Hernsheim dagegen als besonnenen Mann, der durchaus Verständnis für die Inselbewohner und ihr Verhalten aufbrachte. So habe er eben nicht, wie Sie schreiben, die „vollständige Zerstörung der Insel Luf“ veranlasst, sondern erwünschte in einer Eingabe bei Bismarck eine Verfolgung von Einzeltätern. Wie müssen wir uns diesen Eduard Hernsheim tatsächlich vorstellen? Als kolonialen Ausbeuter? Oder als einen hanseatischen Kaufmann, der durchaus Rechenschaft über sein Handeln ablegte?

Jakob Anderhandt hat neuerdings eine merkwürdige Wendung vollzogen, die nicht entfernt zu seinen sehr sorgfältigen empirischen Befunden passt: Hernsheim hat die Strafexpedition gegen die Insel Luf veranlasst. Wie brutal solche Strafexpeditionen durchgeführt wurden, wusste er. Es ging ihm nicht um die Verfolgung von Einzeltätern, sondern um eine exemplarische Bestrafung, um eine weit über die Insel hinaus wirksame Generalprävention. All das kann man bei Anderhandt nachlesen, der darüber hinaus anhand der Quellen berichtet, dass Hernsheim auch nach der verheerenden Strafaktion die Luf-Leute weiterhin und eben kollektiv als „ganz gefährliche Mordbrenner“, als „grauenhafte Bande“und„heimtückischeWilde“bezeichnete.

In Ihrem Buch stellt das Luf-Boot nur einen besonders eklatanten Fall für jene koloniale Raubkunst dar, die sich heute in den ethnografischen Sammlungen der früheren Kolonialmächte befindet. Die berühmten Benin-Bronzen aus dem heutigen Nigeria sind zum Inbegriff dieser Raubkunst geworden. Können Sie sich Formen einer gemeinsamen Verantwortung für dieses Weltkulturerbe der Menschheit vorstellen – Stichwort „shared heritage“? Zumal Migration und Einwanderungspolitik längst zu multikulturellen Gesellschaften geführt haben, in denen die alten Nationalmuseen ihren Sinn verlieren. Und könnte das Humboldt-Forum nicht zu dieser neuen Art von Museum werden, in der weniger die Herkunft als der gemeinsame Umgang mit den Objekten eine zentrale Rolle spielt?

Wir verfügen über Erfahrungen hinsichtlich der Restitution des Eigentums der von Deutschen enteigneten und ermordeten Juden. Auch dieser Prozess der Rückgaben und geschichtlichen Selbstaufklärung setzte sehr zäh und langsam ein. Noch heute hängt oder steht derartiges unter mörderischen Umständen beigebrachtes Raubgut in Hunderttausenden deutschen Wohnzimmern; kleinere Preziosen ruhen wohlverwahrt in privaten Schmuckkästchen. Oft wissen es die heutigen Besitzer nicht oder sie vermeiden bewusst jeden Versuch, die Herkunft solcher „Erbstücke“ aufzuklären. Das „arisierte“ Raubgut kann man an Erben zurückgeben, man kann sie materiell entschädigen und den fraglichen Gegenstand zu einem fairen Preis kaufen. Warten wir ab, wie sich die Dinge im Fall des kolonial erbeuteten Raubguts entwickeln.

Natürlich gibt es eine gemeinsame Verantwortung für das Weltkulturerbe. Aber wenn wir heutigen Deutschen uns als Treuhänder des einst in den Kolonien Geraubten oder höchst unfair Angeeigneten verstehen, dann sollten die Treugeber, also Vertreter der Staaten, die aus den Kolonien hervorgegangen sind, das letzte Wort haben. Man stelle sich die Sache doch einmal umgekehrt vor! Gesetzt den Fall, es gäbe nur noch einen Riemenschneider-Altar auf der Welt und der stünde in Port Moresby im Nationalmuseum von Papua-Neuguinea mit folgender Beschriftung: „Kultfiguren, Zentraleuropa, Lindenholz, vor 1890 mit Eisenwerkzeugen geschnitzt, Sammler Kenan Morauta, Befehlshaber der Papuanischen Schutztruppe in Europa und Kapitän des Kanonenboots Haifisch, Inventar-Nr. VI 45169.“

Für eine neue Art des gemeinsamen Gedenkens hat der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg das Wort von der „multidirektionalen Erinnerung“ geprägt. Seine Kritiker haben ihm vorgeworfen, die Singularität des Holocaust hinter dem Horizont einer kolonialen Unrechtsgeschichte verschwinden zu lassen. Stichwort: „Decolonizing Auschwitz“. Fürchten Sie, dass es im Zuge der heutigen postkolonialen Debatten am Ende doch zu einer Relativierung oder Gleichsetzung des Holocaust mit anderen Formen von Völkermord kommen könnte?

Allein schon die Formulierung „Decolonizing Auschwitz“ halte ich für ahistorisch und abwegig. Ich frage mich ernsthaft, wie man auf eine derart ideologisch-identitär verworrene Idee kommen kann. Ich bin strikt gegen die Eingemeindung anderer Großverbrechen in die Erinnerung an den Holocaust – und nur dazu dient meines Erachtens der Begriff „multidirektionale Erinnerung“. Es gibt den Kindsmord, den Ehrenmord, den Eifersuchtsmord, den Raubmord, den Justizmord, den Lustmord, sogenannte Incel-Morde, den Geiselmord, den mörderischen Amoklauf, den mörderischen Terroranschlag und so weiter. Am Ende ist immer mindestens ein Mensch tot, jedoch ergibt der Vergleich der Beweggründe des jeweiligen Mordens völlig verschiedene Motive und meistens auch Vorgehensweisen.

Solche Unterschiede bestehen im Fall massenmörderischer Großverbrechen ebenfalls. Sie sollten und müssen in ihrer Verschiedenheit dokumentiert und analysiert werden. Die ethnologischen Museen Europas sind Orte, an denen nicht nur, aber eben auch und deutlich über koloniale Gewaltverbrechen informiert und gesprochen werden sollte. In den ethnologischen Museen in Köln und Stuttgart geschieht das derzeit bereits. Das Humboldt-Forum täte gut daran, solchen Beispielen schnell und ohne Vorbehalte zu folgen.

Das Gespräch führte Frauke Eichenauer.


Buchtipp


Götz Aly

Das Prachtboot.
Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten

S. Fischer Verlag, Hardcover,

zahlr. Abb., 240 Seiten, 21 Euro


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