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Die Urwald-Apotheke aus dem Kamerun

Grünes Gold

Michael Spiteller13.05.2013

Pflanzen können nicht (weg) laufen, umso mehr haben sie andere effiziente Überlebensstrategien entwickelt, von denen wir lernen und die wir uns zunutze machen können. Pflanzen produzieren im Primärstoffwechsel Stoffe, die für ihr Überleben notwendig sind. Daneben werden in einer Pflanze auch eine Vielzahl von Verbindungen im Rahmen des sogenannten Sekundärstoffwechsels produziert, die für die Pflanze nützlich sind, weil sie ihr helfen, sich etwa gegen Fraßfeinde zu verteidigen oder extreme Klimabedingungen auszugleichen. Die systematische wissenschaftliche Aufarbeitung des pflanzlichen Sekundärstoffwechsels begann erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dagegen reicht das Wissen über die sekundären Inhaltsstoffe als Heilmittel wesentlich länger zurück. So erwähnte beispielsweise Plinius der Ältere vor über zweitausend Jahren in seiner „Historia Naturalis“ Johanniskraut als wichtiges Heilmittel gegen Verbrennungen. Erst im Mittelalter wurde dann entdeckt, dass sich Johanniskraut auch positiv auf die Psyche auswirkt. Depressionen und andere psychische Auffälligkeiten wurden damals mit dem Teufel, Hexerei oder Besessenheit in Verbindung gebracht, was dem Johanneskraut den Namen „Fuga daemonum“ gab. Daher auch der volkstümliche Name Teufelsfrucht oder Hexenkraut. Die Phytomedizin beschäftigt sich mit der Anwendung pflanzlicher Präparate als Heilmittel, und viele der aktuellen und hocheffizienten Arzneistoffe sind pflanzlichen Ursprungs. Es gibt Schätzungen darüber, dass 30 bis 50 Prozent unserer medikamentösen Wirkstoffe auf die chemische Struktur von Pflanzeninhaltsstoffen oder Mikroorganismen zurückzuführen sind. Es sind zirka 200.000 Strukturen von sekundären Pflanzeninhaltsstoffen bekannt, aber eine vermutlich genau so große Anzahl von Stoffen ist bisher nicht erforscht und stellt einen unschätzbaren Wert dar. Die Chemie kennt allein für die Atome von Kohlenstoff und Wasserstoff eine schier unbegrenzte Anzahl von Kombinationsmöglichkeiten für neue Moleküle: Für 20 Kohlenstoffe und 42 Wasserstoffe gibt es insgesamt 366.319 Kombinationsmöglichkeiten. Bei 30 Kohlenstoffen und 62 Wasserstoffen sind es bereits 4.111.846.763 Kombinationsmöglichkeiten. Aber nur ein Bruchteil davon wird von der Natur synthetisiert und führt uns so gezielt zu potentiell neuen Wirkstoffen. Pflanzen ersetzen ganze Laboratorien und erproben die im Rahmen der Evolution entstandenen diversen Verbindungen sozusagen in vivo auf ihre Wirksamkeit. Die Suche nach neuen Wirkstoffen ist bei Antibiotika z.B. ein ständiges Katz- und Mausspiel, da sich vielfach relativ rasch Resistenzen entwickeln. Kleinere strukturelle Veränderungen am Wirkmolekül können dies Problem in aller Regel nicht beheben, da sie ähnlichen Resistenzmechanismen unterliegen. Insofern ist es notwendig, nach Leitmolekülen mit neuem Wirkmechanismus zu suchen. Die Vielzahl der in den Pflanzen enthaltenen Sekundärstoffwechselprodukte stellt daher eine unschätzbare Quelle für diese neuen Leitsubstanzen dar. Hierbei bietet insbesondere die hohe Biodiversität im tropischen Urwald beste Voraussetzungen, um erfolgreich nach neuen Leitstrukturen zu suchen. Dies gilt umso mehr als die kombinatorische Chemie, also das Experimentieren im Labor nicht die Erwartungen erfüllt hat, die an sie gestellt wurden.

Suche in den Tropen

Um dieses Wissen nutzbar zu machen, suchen wir in Kooperation mit einheimischen Forschern in tropischen Urwäldern nach solchen neuen Strukturen mit potentieller medizinischer Wirksamkeit. Wir konzentrieren uns in unserem Projekt auf das auslaufende nördliche Kongobecken im Nationalpark Dja im Kamerun sowie auch den Mount Cameroon an der Küste mit einer Erhebung bis zu 4.095 Meter. Die Arbeiten finden in Kooperation mit der Universität Yaoundé I mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) statt. Deutsche Doktoranden der TU Dortmund arbeiten zusammen mit kamerunischen Studenten in gemeinsamen Feldprojekten und Laborarbeiten. Der erste Schritt ist jedoch, die für uns richtigen Pflanzen aufzuspüren, und hierfür fragen wir lokale Heiler, die über Generationen übertragene Kenntnisse der Wirkung von Pflanzenextrakten besitzen. In Westafrika werden die Kenntnisse über die Nutzung von Heilpflanzen nur verbal weitergegeben. Gerade durch die rasche Entwicklung in Afrika ist viel Wissen verlorengegangen, aber auch durch den Raubbau in den Primärwäldern nimmt die Vielfalt der Pflanzenarten dramatisch ab. Wir vernichten also Pflanzen, von denen wir zum Teil heute noch gar nicht wissen, ob sie von unschätzbarem Wert für die Behandlung von Krankheiten sein könnten.

Einen Schwerpunkt unserer Suche nach neuen Leitverbindungen sehen wir in der Indikation Rheuma. Rheuma und chronische Entzündungen können zwar mit synthetischen Präparaten gut behandelt werden, die Liste der Nebenwirkungen ist jedoch lang. Selbst wenn das absolute Wirkniveau von aus Pflanzen isolierten Verbindungen niedriger ist als bei herkömmlichen Arzneimitteln, sind jedoch möglicherweise die Nebenwirkungen geringer. Nichtsdestotrotz sind auch von Naturstoffen Nebenwirkungen bekannt, zum Beispiel von dem eingangs erwähntem Hypericum: Aufgrund der Wechselwirkung mit Arzneimitteln kann die Wirkung von Zytostatika, Lipidsenkern und Herzmitteln reduziert werden. Darüber hinaus kann es bei einigen Antidepressiva zu einem lebensbedrohlichen Serotonin-Syndrom kommen.

Neben den Pflanzeninhaltsstoffen sind in den letzten Jahren auch die auf den Pflanzen angesiedelten Mikroorganismen ins Interesse der Forschung gerückt. Diese sogenannten endophytischen Organismen leben quasi in symbiotischer Gemeinschaft mit den Pflanzen und produzieren ebenfalls hochaktive sekundäre Metabolite, die für eine pharmazeutische Anwendung von Interesse sind. Im Idealfall bräuchte man nur noch die entsprechenden Organismen und könnte den Wirkstoff in einem großen Bioreaktor herstellen und ganz auf die Pflanze verzichten. Dies hätte auch den Vorteil, die Pflanzen zu schonen. Bereits jetzt sind einige der in der Phytopharmazie angewandten Pflanzen durch unkontrollierten Abbau soweit reduziert, dass sie auf die Liste der geschützten Pflanzen gesetzt wurden. Durch das rücksichtslose Sammeln der Arzneipflanzen ist ihr Bestand in der Wildnis vielfach bedroht. Nicht nur das Verschwinden von bedrohten Arten stellt uns vor neue Probleme, sondern auch die Nutzung der Patente auf Pflanzeninhaltsstoffe oder ihre genetischen Ressourcen. Weltweit stehen etwa 40.000 Pflanzenarten unter dem Schutz des Washingtoner Artenschutzübereinkommens mit dem Ziel, den Handel soweit zu kontrollieren, dass das Überleben von wild lebenden Tier- und Pflanzenarten nicht gefährdet wird. Jährlich sterben weltweit etwa tausend Mal mehr Arten aus als es unter natürlichen Umständen der Fall wäre. Viele Entwicklungsländer haben weder die juristischen noch wissenschaftliche Ressourcen und Erfahrungen, wie sie mit der Frage des patentierten Pflanzenmaterials umgehen sollten. Es ist uns daher ein Anliegen, solche Untersuchungen zum Wohl des Landes und der Bevölkerung durchzuführen und die einheimischen Kollegen in die Lage zu versetzen, die Potentiale ihres Landes selbst zu nutzen. Im Rahmen unserer Kooperation haben wir daher eine Vereinbarung der beiden Universitäten unterzeichnet, die wissenschaftliche Ergebnisse gemeinsam zu publizieren und auch die mögliche Vermarktung gemeinsam vorzunehmen. Die beste Hilfe zur Selbsthilfe setzt aber noch früher an, nämlich bei der Ausbildung der klügsten jungen Köpfe. Daher unterstützen wir seit einiger Zeit die Zusammenarbeit mit Studenten aus dem Kamerun.

Michael Spiteller
Professor Dr. Dr. h.c. Michael Spiteller  (RC Dortmund-Neutor) ist seit Oktober 1999 Leiter des Instituts für Umweltforschung (INFU) der Fakultät Chemie an der TU Dortmund. Er ist Mitherausgeber des Springer-Umweltlexikons (Springer 2000). www.infu.tu-dortmund.de