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Was ist eigentlich Materie?

Die Welt der kleinen Teilchen

Harald Fritzsch15.08.2012

Bereits in der Antike beschäftigten sich die Philosophen mit der Frage, woraus die Materie besteht. Kann man ein Stück Metall beliebig in kleinere Teile zerlegen? Gibt es kleinste, nicht mehr teilbare Objekte? Im alten Griechenland wurde spekuliert, daß die Materie aus kleinsten, unteilbaren Elementen besteht, die man als „Atome“ bezeichnete. Im 17. Jahrhundert wurde die Atomlehre mit naturwissenschaftlichen Ideen verknüpft. Die Naturforscher gelangten zu der Einsicht, daß chemische Elemente wie Wasserstoff oder Eisen aus gleichartigen Atomen bestehen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde von Physikern und Chemikern die Größe der Atome bestimmt – die Ausdehnung eines Wasserstoffatoms ist etwa 10-8 cm.


Heute wissen wir, daß die Atome aus kleineren Objekten bestehen – aus negativ geladenen Elektronen, die einen Atomkern umkreisen. Der Atomkern ist kleiner als das Atom – sein Radius ist nur 10-12 cm. Die Atome sind elektrisch neutral. Die elektrische Ladung des Atomkerns ist positiv und genau so groß wie die Summe der Ladungen der Elektronen in der Atomhülle. Das kleinste Atom, das Wasserstoffatom, besitzt nur ein Elektron. Im Uranatom gibt es 92 Elektronen.

Die Elektronen besitzen eine sehr kleine Masse von nur etwa 10-30 kg und eine negative elektrische Ladung. Bis heute konnte man keine innere Struktur der Elektronen nachweisen – anscheinend sind sie punktförmige Teilchen. Die Atomkerne bestehen aus kleineren Kernteilchen, aus den elektrisch positiv geladenen Protonen und den elektrisch neutralen Neutronen. Die elektrische Ladung eines Protons ist, abgesehen vom anderen Vorzeichen, genau so groß wie die Ladung des Elektrons. Im Inneren eines neutralen Atoms sind also genau so viele Elektronen und Protonen. Im Gegensatz zu den Elektronen besitzen die Protonen und Neutronen im Atomkern eine innere Struktur – ihr Radius ist etwa 10-13 cm. Die Massen der Protonen und Neutronen sind etwa gleich und ca. 1800 mal größer als die Masse des Elektrons.


Die Elektronen umkreisen den Atomkern, da sie durch die positive Ladung des Kerns angezogen werden. Zwischen den Protonen und Neutronen wirkt eine sehr starke Kraft. Diese Kernkraft wird durch den Austausch von speziellen Kraftteilchen erzeugt, den Pi-Mesonen. Die Masse dieser Teilchen ist etwa 270 mal größer als die Masse eines Elektrons. Die Kraft zwischen den Kernteilchen wird als starke Wechselwirkung bezeichnet.

 

Elementarteilchen

Vor etwa 60 Jahren entdeckten die Physiker in der kosmischen Höhenstrahlung und bei Experimenten mit Beschleunigern viele neue Elementarteilchen, die jedoch im Gegensatz zu den Elektronen und Protonen nicht stabil waren, sondern kurz nach ihrer Erzeugung wieder zerfielen. Es stellte sich zudem heraus, daß es zu jedem Teilchen ein Antiteilchen gibt. Das elektrisch positiv geladene Positron ist das Antiteilchen des Elektrons. Bald waren die Physiker mit einem großen Teilchenzoo konfrontiert. Man fand auch instabile geladene Teilchen, die ähnlich den Elektronen waren, die Myonen und Tauonen, und elektrisch neutrale Teilchen, die Neutrinos. Diese Teilchen werden als Leptonen bezeichnet. Die Leptonen ignorieren die starke Wechselwirkung.


Bei Kollisionen von Protonen mit Atomkernen entdeckten die Physiker mehr als hundert neue instabile Teilchen, die wie die Protonen eine starke Wechselwirkung zeigten. In den Jahren zwischen 1960 und 1980 gelang es schließlich, Ordnung in das Chaos der subnuklearen Welt zu bringen. Heute wissen wir, daß alle Teilchen, die an der starken Wechselwirkung teilnehmen, aus noch kleineren Objekten aufgebaut sind, die man als „Quarks“ bezeichnet. In unserem Universum gibt es sechs verschiedene Quarks: „up“ (u), „down“ (d), „charm“- (c), „strange“ (s), „top“ (t) und „bottom“ (b). Nur die u-Quarks und die d-Quarks sind stabil – sie sind die Bausteine der Protonen und Neutronen. Alle anderen Quarks zerfallen kurz nach ihrer Erzeugung.


Das Proton besteht aus zwei u-Quarks und einem d-Quark: (uud), das Neutron aus einem u-Quark und zwei d-Quarks: (udd). Im Inneren der Kernteilchen gibt es also jeweils drei Quarks. Die anderen Quarks, etwa das s-Quark, sind Bausteine neuer, instabiler Teilchen. Beispielsweise gibt es ein Teilchen mit der Substruktur (uds), das Lambda-Teilchen, das sofort nach seiner Erzeugung meist in ein Kernteilchen und ein Pion zerfällt. Die Pionen bestehen aus einem Quark und einem  Antiquark.


Die Quarks wurden bereits 1964 von dem amerikanischen Physiker Murray Gell-Mann eingeführt. Gell-Mann konnte auch die elektrischen Ladungen der Quarks bestimmen. Sie sind drittelzahlig - das u-Quark hat die Ladung 2/3, das d-Quark die Ladung -1/3.  Mit Hilfe von Beschleunigern, die in der Lage waren, Elektronen auf sehr hohe Energien zu beschleunigen, war es ab 1968 möglich, die Quarks im Inneren der Atomkerne zu beobachten. Es stellte sich heraus, daß die Quarks wirkliche Teilchen sind, nicht nur mathematische Strukturen, wie von Gell-Mann angenommen. Es ist jedoch nicht möglich, eines der Quarks aus dem Atomkern zu entfernen – zwischen den Quarks wirken sehr starke Kräfte, so daß die Quarks nicht als freie Teilchen existieren können.


Wie die Elektronen besitzen die Quarks auch eine Masse. Die Massen der u- Quarks und der d-Quarks sind sehr klein, nur etwa zehnmal größer als die Elektronenmasse, aber die Masse des t-Quarks ist sehr groß, vergleichbar mit der  Masse eines Goldatoms.


Heute kennen wir die Wechselwirkungen zwischen den Quarks. Sie sind sehr ähnlich den elektromagnetischen Wechselwirkungen zwischen elektrisch geladenen Teilchen. Letztere sind die Folge des Austauschs von Photonen, den masselosen Teilchen des Lichts. Die Kräfte zwischen den Quarks werden durch den Austausch von acht masselosen Kraftteilchen erzeugt, die man als Gluonen bezeichnet, abgeleitet von dem englischen Wort „glue“.  Die elektrische Ladung wird in dieser Theorie durch die Farbladungen ersetzt. Die Quarks besitzen neben ihrer elektrischen Ladung eine Farbladung, die man als „rot“, „grün“ und „blau“ bezeichnet. Aus diesem Grunde nennt man die Theorie „Quantenchromodynamik“.


In dieser Theorie sind die freien Teilchen nur diejenigen Teilchen, bei denen sich die Farbe neutralisiert. Das Proton besteht aus drei Quarks, wobei jedes Quark eine andere Farbe hat, etwa ein rotes u-Quark, ein grünes u-Quark und ein blaues d-Quark. Wenn man rotes, grünes und blaues Licht optisch mischt, erhält man weißes Licht – die Farben werden neutralisiert. Das Proton ist also ein „weißes“ Teilchen. Ein Quark, etwa ein rotes u-Quark, kann nicht als freies Teilchen existieren.

 

Entstehung der Masse

In der Quantenchromodynamik versteht man auch, warum die Protonen eine Masse besitzen. Sie ist gegeben durch die Feldenergie der Gluonen und der Quarks im Inneren eines ruhenden  Protons. Die Masse ergibt sich als Folge der Einsteinschen Äquivalenz von Masse und Energie, beschrieben durch die Formel E = mc2. Heute ist man sicher, daß die Quantenchromodynamik die starken Wechselwirkungen, eingeschlossen die Kräfte innerhalb der Atomkerne, richtig beschreibt.


Neben den elektromagnetischen und starken Wechselwirkungen gibt es die schwachen Wechselwirkungen, die zum Beispiel die Zerfälle von Teilchen beschreiben, etwa den Beta-Zerfall eines freien Neutrons in ein Proton, wobei ein Elektron und ein Neutrino emittiert werden. Auch diese Wechselwirkungen kommen durch den Austausch spezieller Kraftteilchen zustande, die man als schwache Bosonen bezeichnet. Es gibt drei schwache Bosonen, zwei davon sind elektrisch geladen, das dritte ist neutral: W+ , W-  und  Z . Im Gegensatz zu den Photonen und Gluonen besitzen die schwachen Bosonen eine große Masse – sie ist etwa 90mal größer als die Masse eines Protons. Heute wissen wir, daß die schwachen und elektromagnetischen Wechselwirkungen nicht isoliert sind, sondern durch eine vereinigte elektroschwache Theorie beschrieben werden.


Die Wechselwirkung eines geladenen W-Bosons mit einem Quark oder einem Elektron verändert die elektrische Ladung. Aus einem Elektron wird beispielsweise ein Neutrino, aus einem d-Quark wird ein u-Quark. Deshalb werden die Quarks und Leptonen paarweise zusammengefaßt: (u,d), (c,s), (t,b)  --- ( Elektron, Neutrino ),  ( Myon, Neutrino ), ( Tauon, Neutrino ). Man kann die Leptonen und Quarks in Familien zusammenfassen. Es gibt eine erste Familie, bestehend aus dem Elektron, seinem Neutrino, dem u-Quark und dem d-Quark, analog dazu eine zweite und eine dritte Familie.


Die Theorien der elektroschwachen und der starken Wechselwirkungen sind seit Mitte der 70iger Jahre bekannt. Man nennt die Summe dieser beiden Theorien das „Standardmodell der Elementarteilchen“. Jedoch gibt es im Standardmodell viele ungelöste Probleme. Wir verstehen zum Beispiel nicht, warum die Zahl drei eine fundamentale Rolle spielt. Es gibt die drei Farben der Quarks, die drei Familien von Leptonen und Quarks und die drei Dimensionen unseres Raumes. Auch die Massen der Leptonen und Quarks kann man im Standardmodell nicht berechnen. Viele Physiker nehmen deshalb an, daß das Standardmodell nur eine erste Näherung einer umfassenderen Theorie ist. Dann müßten die Physiker in den Experimenten bald Anzeichen für neue Phänomene finden, die man nicht im Rahmen des Standardmodells beschreiben kann.


Die Teilchenphysik steht zu Beginn des neuen Jahrtausends an der Schwelle neuer Entdeckdungen. Immer tiefer sind die Physiker im 20. Jahrhundert in das Innere der Materie vorgedrungen. Neue Welten wurden erschlossen, neue Horizonte wurden sichtbar. Die Teilchenphysik bleibt ein großes Abenteuer. Sie hat viele Geheimnisse, deren Aufklärung schließlich zur Erkennung der Wahrheit führt. Bertolt Brecht schrieb 1921 in sein Tagebuch: „Wo es kein Geheimnis gibt, gibt es keine Wahrheit.“

 


 

Prof. Dr. Harald Fritzsch ist Emeritus der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Ordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und arbeitet oft am CERN in Genf und am DESY in Hamburg. Zusammen mit Murray Gell-Mann schlug Fritzsch 1972 die  Quantenchromodynamik vor. Zuletzt erschien sein Buch „Mikrokosmos. Die Welt der kleinsten Teilchen“.

Harald Fritzsch
Professor Dr. Harald Fritzsch ist em. Professor der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Ordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und arbeitet oft am CERN in Genf und am DESY in Hamburg. Zusammen mit Murray Gell-Mann schlug Fritzsch 1972 die Quantenchromodynamik vor. Zuletzt erschien "Quantenfeldtheorie – Wie man beschreibt, was die Welt im Innersten zusammenhält". (Springer Spektrum 2015).