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Interview

»??Die großen Fragen des Universums??«

Helmut Dosch über die Bedeutung des Genfer Teilchenfundes und die kommenden Aufgaben der physikalischen Grundlagenforschung.

Helmut Dosch29.08.2012

Herr Professor Dosch, was bedeutet der – wahrscheinliche – Fund des Higgs-Teilchens am Genfer CERN für die Wissenschaft?

Helmut Dosch: Mit der hochwahrscheinlichen Entdeckung des Higgs-Teilchens geht eine jahrzehntelange Fahndung erfolgreich zu Ende. Dies hat eine große Bedeutung für die Physik, da –falls sich der Fund erhärtet und es sich tatsächlich um das sogenannte „Standard-Higgs“ handelt- der gotische Schlussstein für ein theoretisches Gebäude gefunden wurde. Diese Entdeckung ist aber auch ein Triumpf der Forschung mit Großgeräten, die naturgemäß teuer und gewissermaßen zum Erfolg verdammt ist.

 

Warum jagt die Wissenschaft so lange nach einem einzigen Teilchen, das von 99 Prozent der Menschheit wahrscheinlich gar nicht verstanden wird?

Teilchenjagd ist Grundlagenforschung pur. Es liegt in der Natur der Sache, dass dies komplexer Stoff ist, dessen Bedeutung man nur als Experte voll erfassen kann. Deshalb entsendet unsere Gesellschaft ja herausragende Wissenschaftler in dieses schwierige Feld. Am CERN geht es um die großen Fragen des Universums, um das Alphabet des Universums und wie seine Grammatik lautet.

Die Suche nach neuen Teilchen gehört seit jeher zu den spannenden Aufgaben der Physik. Die Entdeckung eines neuen Teilchens hat unmittelbar einen großen Einfluss auf die wissenschaftliche Architektur und kann langfristig auch unsere Gesellschaft verändern. Denken Sie beispielsweise an das Elektron, das 1897 von Thomson entdeckt wurde. Ohne die Kenntnis von seiner Existenz und ohne das Detailverständnis von seinen Eigenschaften gäbe heute kaum etwas Brauchbares,  keine Telekommunikation, keine Hochleistungsmaterialen, keinen Wohlstand.

 

Als Laie fragt man sich aber dennoch, woher die Aufregung kommt, wenn man endlich ein Teil findet, nach dem man 50 Jahre gesucht hat.

Ich muss zugeben, dass die jetzt verkündete Entdeckung für die Experten nicht ganz so überraschend war, wie es jetzt medial verarbeitet wird, da man ja  –wie sie sagen- jahrzehntelang sehr gezielt danach gesucht und bereits seit einigen Monaten die Signatur des Teilchens im Rauschen der CERN-Detektoren erkannt hat.

Dem Higgs-Feld kommt ja eine sehr besondere und sonderbare Rolle zu: es verleiht den anderen Elementarteilchen, wie dem Elektron, seine Masse, vermittelt also eine sehr grundlegende Eigenschaft. Deshalb ist die Entdeckung des Higgs-Teilchens schon was Besonderes.

 

Was treibt die Physik derzeit noch an?

In den verschiedenen Disziplinen der physikalischen Forschung gibt es viele spannende Fragen und viele große Herausforderungen: die Laserphysik arbeitet man beispielsweise an der Idee von Lichtcomputern, die Festkörperphysik will das Material entdecken, das bei Zimmertemperatur supraleitend ist. In der Astrophysik geht man auf die Suche nach dem rätselhaften Stoff namens Dunkler Materie, der unser Universum wie ein unsichtbares Gas ausfüllt und dafür sorgt, dass unsere Galaxie bei der Rotation nicht auseinander fliegt. Das sind nur einige herausgegriffene Beispiele.

Eine Triebfeder der Physik ist die Suche nach neuen Erkenntnissen, die wir an den Grenzgebieten zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen vermuten. Deshalb arbeiten heute Physiker eng mit Chemikern und Biologen zusammen. Kann man das Entstehen und das Brechen einer chemischen Bindung direkt beobachten ? Dies ist ein „Heiliger Gral“ der Chemie, der mit Hilfe modernster physikalischer Methoden heute in den Bereich des Möglichen gerückt wurde: mit dem Europäischen Röntgenlaser in Hamburg, der gewissermaßen eine Hochgeschwindigkeitskamera und für die Nanowelt ist und mit Röntgenlaser-Blitzlichtaufnahmen derartige ultraschnelle chemische und biochemische Vorgänge erstmals filmen kann.

All dies ist Grundlagenforschung, die in der Regel nicht unmittelbar zu einem neuen Produkt auf dem Markt führt. Grundlagenforschung schafft die unverzichtbare Wissensbasis für die Welt morgen und übermorgen, also für die Welt unserer Kinder und Enkel. Eine Investition also in die Zukunft, die wir uns leisten müssen, zumal Wissen unser einziger Rohstoff in Deutschland ist.

Oftmals ist diese Forschung technisch aber auch finanziell so aufwändig, dass dies nur noch in einer großen internationalen Kollaborationen bewerkstelligt werden kann, wie der vorgenannte Europäische Röntgenlaser, aber auch das CERN, mit dem das DESY in Hamburg eng kooperiert. Man sieht, man kann in Europa gemeinsam etwas Großartiges bewirken, allen derzeitigen Unkenrufen zum Trotz.

 

Die grundlegenden Fragen, die Sie vorhin angesprochen haben,  berühren ja nicht nur die klassischen Naturwissenschaften, sondern auch philosophische Fragen. Gibt es dabei eine Zusammenarbeit mit den Geisteswissenschaften, oder bleiben die klassischen Naturwissenschaften unter sich?

Natürlich haben grundlegende Fragestellungen und Antworte, wie die Frage nach dem Urknall, eine philosophische Implikation, denn sie berühren ja unsere Existenz: Woher kommen wir, wohin gehen wir, warum gibt es uns überhaupt? Eine alte Gretchenfrage lautet: „Warum ist nicht Nichts?“ Es gibt also genügend Raum für naturphilosophische Anstrengungen. Meine rein persönliche Beobachtung ist etwas, dass viele Naturphilosophen immer noch bei der Aufarbeitung der Folgen der Quantenmechanik, die in den Dreißiger Jahren entwickelt wurde, stehen geblieben sind.

Unser Alltag wird immer intensiver von den Produkten der Nanotechnologie bestimmt, also von Strukturen, die wir mit bloßen Augen nicht mehr sehen können. Auch dies wirft viele Fragen und Probleme in unserer Gesellschaft auf, die man in enger Zusammenarbeit mit den Geisteswissenschaften lösen muss.

 

Was hat der Mensch im Alltag von solchen Forschungen?

Grundlagenforschung berührt uns alle. Sie schafft das notwendige Wissen und die technischen Fähigkeiten, um sich den großen Fragen aber auch den großen Herausforderungen der Gesellschaft -ich erwähne die erneuerbare Energien und den Klimawandel- zu stellen. Ohne die Erforschung der Grundlagen gibt es keine nachhaltige Entwicklung. Deshalb brauchen wir den gesellschaftlichen Konsens, solche Anstrengungen in der Forschung zu unternehmen.

 

Welchen Forschungsvorhaben widmet sich die Helmholtz-Gemeinschaft, zu der auch das DESY gehört?

Die Helmholtz-Gemeinschaft stellt sich gerade den großen Fragen und den großen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Dabei arbeitet sie sehr eng mit der Politik zusammen, um die Forschungsziele regelmäßig an die sich verändernde Welt neu anzupassen. Diese Forschungsziele betreffen Umwelt und Klima, die künftige nachhaltige Energieversorgung, verbesserte Transportsysteme, Gesundheitsforschung, natürlich auch die künftigen Informationstechnologien und die grundlegende Erforschung von Materie. Die Helmholtz-Zentren haben sich auf verschiedene Aufgabenstellungen spezialisiert und arbeiten eng mit anderen nationalen und internationalen Forschungsorganisationen und mit den deutschen Universitäten zusammen. Viele Problemstellungen sind heute ja so aufwändig und komplex geworden, dass eine einzelne Forschungsorganisation dies nicht alleine lösen kann. Denken Sie an das Klimaproblem, das ja nur in einer weltweiten Anstrengung gelöst werden kann.

 

Wie sieht es mit der Resonanz der Grundlagenforschung in der Öffentlichkeit aus? Kann die Wissenschaft damit zufrieden sein?

Das Medieninteresse daran war doch enorm. Das zeigt, dass die Gesellschaft a) interessiert ist und b) auch einen gewissen Stolz hat, dass man es geschafft hat, sich ein derartig kompliziertes Experiment auszudenken, es auch umzusetzen und so erfolgreich zu betreiben, dass man an neue Erkenntnisse herankommt.  Meine Beobachtung ist, dass die Bürgerinnen und Bürger von derartigen Forschungsvorhaben fasziniert sind. Wir haben beim DESY am Tag der offenen Tür regelmäßig bis zu16.000 Besucher, die unsere Beschleunigeranlagen genauer sehen wollen und von der Komplexität dieser Strukturen natürlich mächtig beeindruckt sind.

Man muss das Interesse der Bevölkerung nur richtig bedienen, das heisst, die Menschen da abholen, wo sie sind, und nicht über ihre Köpfe hinwegreden. Ich glaube, dass die Physik da in den letzten zwei Jahrzehnten Einiges hinzugelernt hat, dass man sich eben nicht in den berühmten Elfenbeinturm zurückziehen darf, sondern der Bevölkerung kontinuierlich erklären muss, was man mit deren Steuergeldern macht.

 

Der „Spiegel“ hat seinen Leitartikel zum Higgs-Boson überschrieben mit den Worten „Die Gegenwelt“. Ist das übertrieben?

Ich rate uns Wissenschaftlern immer sehr dazu, auf dem Boden zu bleiben, weiter gute Forschungsarbeit zu machen, und die Einsortierung von Entdeckungen und Ereignissen den Historikern zu überlassen. Im Übrigen hat sich der Spiegel-Artikel mit der sogenannten Antimaterie beschäftigt; auch spannend, hat aber herzlich wenig mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens zu tun.

 


 

Zur Person

Prof. Dr. Helmut Dosch studierte Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nach Aufenthalten in Grenoble und in den USA leitete er in München zwischen 1987 und 1991 eine Projektgruppe „Phasenübergänge und kritische Phänomene an Legierungsoberflächen“. 1993 erhielt er Rufe an die Universitäten Würzburg und Wuppertal. Seit 1997 war er Wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und Direktor am Max-Planck-Institut für Metallforschung und seit Februar 1998 gleichzeitig Ordinarius für Festkörperphysik an der Universität Stuttgart. Helmut Dosch ist Mitglied verschiedener nationaler und internationaler Beratungsgremien. Seit dem 2. März 2009 ist er Leiter des zur Helmholtz-Gemeinschaft gehörenden Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY. Für seine Forschungsarbeiten erhielt er 2010 die Röntgenplakette und im selben Jahr die Ehrendoktorwürde des Kurchatov-Instituts in Moskau.