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Über das Verhältnis der ?Geisteswissenschaften zum Politikbetrieb

Das Fehlen der großen Erzählung

Wenn verschiedene Weltbilder, Kulturen und systeme aufeinander prallen, braucht die Gesellschaft Grundlagenwissen, mit dem sich das aktuelle Geschehen in grössere Zusammenhänge einordnen lässt.

Herfried Münkler07.02.2012

 Um es vorweg zu sagen: Auch wenn so mancher Geisteswissenschaftler in Politik und Wirtschaft Karriere gemacht hat und man angesichts seiner Biografie mit Erstaunen feststellt, wozu ein Studium der Musik- oder Literaturwissenschaft befähigen kann, gilt für die Disziplinen doch insgesamt, dass sie zum operativen Betrieb in Distanz stehen. Sieht man von den sogenannten Soft Skills ab, vermitteln sie kein Wissen und keine Kompetenzen, die für Führungspositionen in einem Ministerium besonders befähigen. Allenfalls bei Kultus- und Wissenschaftsministern würde man sich gelegentlich wünschen, dass sie mit den Geisteswissenschaften enger in Berührung gekommen wären. In der Regel trifft man aber auf Juristen und ausgebuffte Funktionäre des politischen Betriebs, und die Qualifikation, auf die es bei ihnen ankommt, ist Führungsfähigkeit. Die erwirbt man jedoch nicht in den Geisteswissenschaften.

 

Es ist freilich die Frage, ob man sie in einer anderen universitären Disziplin erwerben kann. Die Naturwissenschaften stehen den Anforderungen politischer und wirtschaftlicher Führung ebenso fern wie die Geisteswissenschaften, und auch von den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften kann man sagen, dass sie nicht für die Führung, sondern für den Betrieb von Politik und Wirtschaft ausbilden. In gewisser Hinsicht hat sich die Universitätsstruktur, wie sie sich im 16. und 17. Jahrhundert mit vier Fakultäten herausgebildet hat, bis heute erhalten: die Theologische Fakultät produziert für den Betrieb der Kirche, die Medizinische für das Gesundheitswesen, die Juristische für die Administration des Staates sowie die allgemeine Rechtspflege, und nur die Philosophische Fakultät bringt Sinnbewirtschafter ohne besondere berufliche Spezifikation hervor.

Von Vor- zu Hinterherdenkern

Aber das ist nur der erste Blick. Sieht man genauer hin, so ist die Dynamik der Wissensproduktion in den letzten Jahrhunderten von der Philosophischen Fakultät ausgegangen: Aus ihr sind im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts die Naturwissenschaften entstanden, die dann ihre eigenen Fakultäten etabliert haben, später die Sozialwissenschaften, und als Wilhelm Dilthey den Begriff der Geisteswissenschaft prägte, wollte er die spezifische Domäne dieser Fakultät gegenüber ihren Hervorbringungen markieren. Das war damals noch alles andere als eine Defensivposition; unter Rückendeckung der Philosophie des deutschen Idealismus wurde damit der Anspruch auf eine gesellschaftliche und politische Führungsposition geltend gemacht. Für Dilthey besaßen die Geisteswissenschaften die Direktion gegenüber dem Politikbetrieb. Nur sie kannten die Chronologie und Topografie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und wussten, woher man kam und wohin man gehen konnte und gehen sollte.

 

In mancher Hinsicht waren der Sturz der Geisteswissenschaften und der Aufstieg der Demokratie in Deutschland zwei Seiten derselben Medaille. Die Geistesaristokraten hatten es sehr viel leichter, sich einer hochherrschaftlichen Führungsriege anzudienen, als das Volk in seinen Wahlentscheidungen und Unmutsäußerungen zu beeinflussen. Und seit dem Aufstieg der Demoskopie ist der geisteswissenschaftliche Führungsanspruch gänzlich unter die Räder gekommen. Die Politik fragt nicht mehr nach großen Orientierungen, sondern kleinen Befindlichkeiten. Die Geisteswissenschaft ist darüber in Melancholie versunken oder hat sich in die Schmollecke zurückgezogen, aus der sie das Geschehen kommentiert – mitunter sarkastisch, manchmal auf Änderung drängend, aber fast immer in wehmütigem Tonfall. Aus den einstigen Vordenkern sind Nachdenker und häufig bloß Hinterherdenker geworden. Nur gelegentlich schmückt sich ein Politiker damit, dass er einen Philosophen oder Gesellschaftstheoretiker zum Gespräch einlädt. Aber entgegen allen offiziellen Behauptungen will er von ihm gar nicht lernen, sondern sich mit ihm bloß in der Öffentlichkeit zeigen.

In der Schmollecke

Sind Geisteswissenschaftler also nur noch die Narren am Hofe der Politik? Nun sollte man die Rolle des Hofnarren hinsichtlich Bedeutung und Einfluss nicht unterschätzen. Der Narr war von der Erwartung der Schmeichelei freigestellt und durfte dem Herrscher die Wahrheit sagen. Im Unterschied zum Hofstaat, der dem Herrscher sagte, was er hören wollte, konnte der Hofnarr sagen, was er für richtig hielt. Das war gefährlich, und zu seinem eigenen Schutz hatte er die Narrenkappe auf, die ihn schützte, wenn seine Äußerungen auf Missfallen stießen. Hofnarren, die „das Ohr des Machthabers hatten“, waren mächtige Leute. So mancher Höfling suchte sein Anliegen auf dem Umweg über den Hofnarren vorzubringen.

 

Davon ist die heutige Geisteswissenschaft weit entfernt. Sie trägt zwar keine Narrenkappe, hat aber auch kaum Einfluss, weder bei den Regierenden noch beim eigentlichen Souverän, beim Volk. Mustert man die bunte Riege der regelmäßigen Talkshow-Gäste, so finden sich darunter so gut wie keine Geisteswissenschaftler. Die zwei, drei, die sich ausmachen lassen, haben entweder, wie Arnulf Baring, die Narrenkappe aufgesetzt, d.?h. sie haben eine bestimmte Rolle in der Regie der Kommunikationsabläufe, oder sie haben, wie Gertrud Höhler, ihre geisteswissenschaftliche Herkunft abgestreift und sind in die Haut des professionellen „Politikberaters“ geschlüpft. Politik und Gesellschaft sind offenkundig davon überzeugt, auf die professionellen Sachwalter des Geistes in den Foren ihrer unterhaltenden Selbstberatschlagung verzichten zu können. Dementsprechend geistlos fallen die Talkshows aus – murrt die Geisteswissenschaft in der zur Hälfte selbst gewählten, zur Hälfte angewiesenen Schmollecke.

 

Aber der hohe, feierliche Ton, den die Geisteswissenschaft bei Festakten und Feierstunden anschlägt, taugt wenig für Politikberatung und politische Orientierung. Gerne trägt die Geisteswissenschaft eine Weltferne, zumindest Weltdistanz zur Schau, die ihr überhaupt erst erlaubt, den von ihr gepflegten hohen Ton anzuschlagen. Die Geisteswissenschaft ist auf die Umrahmung ihres Auftritts mit klassischer Musik angewiesen, um zum Klingen zu kommen. Das heißt, sie ist in die Folgenlosigkeit von Festakten oder Trauerfeiern verbannt. Nichts zeigt die politische Irrelevanz der Geisteswissenschaften deutlicher als ihre Einkerkerung ins Festliche und Feierliche.

Mangelnder Geist

Aber Politik und Gesellschaft bedürfen der Geisteswissenschaften, zumindest sind sie auf einen wissenschaftlich kontrollierten Geist angewiesen. Die Verdrossenheit der Bürger gegenüber Politik und Politikern hat – auch – mit deren Geistesverlassenheit zu tun. Politiker ohne Geist sind zu grauen Verwaltern des Alltagsbetriebs geworden, bei denen man schon dankbar sein muss, wenn sie sich gegenüber den kleinen, schmutzigen Einladungen und Freundschaften der Lobbyisten und „politischen Landschaftspfleger“ als resistent erweisen. Die wenigen Charismatiker gelten da sogleich als Hoffnungsträger und Wundermänner resp. Wunderfrauen, denen grenzenloses Vertrauen entgegengebracht wird. Ein glamouröses Image ist längst zum Ersatz für den fehlenden Geist im politischen Betrieb geworden.

 

Die geringe Zustimmung, die der Agenda 2010 der Regierung Schröder/Fischer zuteil geworden ist, hat auch mit deren mangelnder narrativen Einbettung zu tun, für welche, wenn denn überhaupt wer, die Geisteswissenschaften zuständig gewesen wären. Und die Akzeptanzdefizite, die Europa zurzeit erfährt, da es für die Deutschen erkennbar mehr kostet als einbringt, sind ebenfalls eine Folge dessen, dass das große politische Projekt der Einigung Europas betriebsförmig administriert wird, aber ohne große Erzählung auf den Weg gebracht worden ist. In den wirtschaftlich prosperierenden Zeiten der letzten Jahrzehnte scheint die Republik auf die Idee gekommen zu sein, die Zumutungen des Geistes ließen sich durch die Zuwendungen des Wohlstandes ersetzen. Das stellt sich gerade als folgenschwerer Irrtum heraus. Es könnte also sein, dass die großen Zeiten der Geisteswissenschaft für Politik und Gesellschaft nicht hinter uns, sondern noch vor uns liegen.