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Titelthema

Das Jahrhundert der globalen Gleichheit

Titelthema - Das Jahrhundert der globalen Gleichheit
STRATEGEM 18 - Will man eine Räuberbande unschädlich machen, muss man erst deren Anführer fangen. © Illustatrion Claudia Lieb

Mit dem Aufstieg der Chinesen gehen 500 Jahre Vorherrschaft der westlichen Minderheit zu Ende. Die Mehrheit der Welt gewinnt unter der Führung Chinas an Macht – mit eigenen Vorstellungen einer neuen Weltordnung. Vielen aufsteigenden Ländern gefällt das – nicht nur in Asien. Der Westen ist perplex.

Frank Sieren01.03.2020

Die Angst des Westens vor dem Coronavirus ist groß. Sie ist ein Spiegelbild der dramatisch wachsenden Bedeutung von China. Denn noch nie in seiner Geschichte war das Land so eng mit so vielen anderen Nationen verknüpft. Noch nie war es global so einflussreich – im Guten wie im Schlechten.

China ist innerhalb weniger Jahrzehnte von einem der ärmsten Länder der Welt zur größten Handelsnation aufgestiegen. An der Kaufkraft gemessen ist China bereits die größte Volkswirtschaft der Welt. Das ist in dieser Geschwindigkeit einmalig in der Weltgeschichte. Jahrhundertelang hat chinesische Technologie den Fortschritt nicht mehr entscheidend mitbestimmt. Doch nun ist das wieder anders.

Und dennoch erfassen diese Superlative nicht die volle Dimension des Wandels. Es geht um mehr: Der Westen kann die globalen Spielregeln nicht mehr alleine bestimmen, obwohl das jahrhundertelang selbstverständlich war. Im 17., 18. und 19. Jahrhundert hielten die Europäer die Zügel in der Hand. Im 20. Jahrhundert die Amerikaner.

Nun jedoch verschiebt sich der globale Machtschwerpunkt offensichtlich dauerhaft in Richtung Asien, mit China als Zentrum.

Das Unbehagen darüber, dass wir immer weniger bestimmen können, kann sich angesichts des Virus nun noch hemmungsloser entladen: Die Chinesen sind schuld. Sie setzen auch unsere Gesundheit aufs Spiel. Vergessen haben wir, dass Volkswagen die Hälfte seiner Autos nach China verkauft, wovon wir gut leben. Vergessen, dass fast alles, was wir tragen und besitzen deshalb so preiswert ist, weil es in China günstig produziert wird.

Das Virus verbreitet sich auch deshalb so schnell, weil die Welt so eng mit China verbunden ist – meist zu unserem Vorteil und dem Vorteil Chinas. Nun sollten wir auch damit klarkommen, dass ein paar Wochen lang die Nachteile deutlich zu spüren sind. Viel wahrscheinlicher jedoch ist: Die Chinesen besiegen das Coronavirus aus eigener Kraft. Das Unbehagen des Westens aber bleibt. Die Politiker sind ratlos, die Wähler verunsichert.

Der krawallige Donald Trump, das zerstrittene Brüssel, die orientierungslosen deutschen Volksparteien, all das sind Unterströmungen eines globalen Epochenwandels, der für den Westen ein völliges Umdenken erfordert. Während die Chinesen fast schon stoisch ihren Weg gehen.

China macht den nächsten Schritt

Seitdem die Mongolen 1241 nach Europa kamen, hat kein asiatisches und auch kein anderes nichtwestliches Land einen so großen wirtschaftlichen und geopolitischen Einfluss gehabt. Das Mongolenreich zerfiel rasch wieder. China wurde Großmacht, allerdings ohne globale Ambitionen. Aus Stärke wurde jedoch Überheblichkeit. Die chinesischen Kaiser konnten sich nicht mehr vorstellen, dass außerhalb von China Sinnvolles erfunden werden könnte. Die Chinesen verpassten so die industrielle Revolution. Die Wirtschaft brach ein und China wäre an der Krise fast zerbrochen. Mao Zedong hat das Land unter großen Opfern im letzten Moment geeint. Doch dann musste China unter seinen brutalen Kampagnen leiden. Der Reformer Deng Xiaoping hat das Land geöffnet. Der chinesische Präsident Xi Jinping geht den nächsten Schritt.

Unter ihm soll China mehr weltumspannenden Einfluss bekommen. Xi ist also durchaus nicht größenwahnsinnig, wenn er als der „Kaiser“ in die Annalen eingehen möchte, der es als Erster in der 3500-jährigen Geschichte des Landes wagt, aus China ein Land zu machen, das die Weltordnung entscheidend mitbestimmt. Dabei setzt China nicht auf militärische Intervention, sondern vor allem auf wirtschaftliche Kooperation. Die Rüstung dient derzeit allein der Verteidigung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich das bald ändert, ist nicht sehr hoch. Aus den Konflikten der Amerikaner haben die Chinesen eines gelernt: Hegemonialkriege sind aufwendig, teuer und umständlich und bringen kaum wirtschaftliche oder wenigstens politische Rendite. Also setzt Peking auf Wirtschaft – durchaus mit aller Härte.

Neue Freunde in Afrika

Deshalb ist Präsident Xi mit seiner Strategie der „Eroberung“ anderer Länder ohne militärische Mittel in einem kurzen Zeitraum erstaunlich weit gekommen. Die Neue Seidenstraße bindet nicht nur China enger an Afrika. Ein asiatischer Nachbar nach dem anderen reiht sich in den Geleitzug von Chinas internationalem Aufstieg ein – auch wenn hier und da ein Murren zu hören ist. Unter der Führung Chinas nimmt gerade ein asiatisches Freihandelsabkommen Formen an. Es ist bereits fertig verhandelt. Nun muss Peking noch die letzten Zweifel der Inder ausräumen. Denn Peking nützt dieses Abkommen am meisten.

China hat sich in Afrika, wenn auch nicht ohne Widersprüche und Fehler, viele neue Freunde geschaffen. Nur die Neider aus dem Westen sprechen von Neokolonialismus. Der Begriff trifft die Entwicklung nicht. Denn Kolonialismus bedeutet, dass der Kolonisierte keine Wahl hat. Diese Zeiten sind für Afrikaner nun aber endlich vorbei. Sie haben die Wahl, mit wem sie zusammenarbeiten. Indien, Südkorea und Japan sind sehr aktiv. Die USA und die EU leider nicht. Inzwischen schließen sich afrikanische Länder sogar zusammen und setzen eigene Spielregeln gegenüber den Chinesen durch.

So wie der Westen gezwungen wurde, zu lokalisieren, wenn er in China verkaufen will, so zwingen die Afrikaner nun die Chinesen, die Produkte für Afrika lokal herzustellen.

Doch China ist nicht nur in Afrika aktiv. Während die Europäer mit sich selbst beschäftigt sind, kauft sich Peking gewissermaßen in Südamerika und in Europa ein. Durch bilaterale Verträge mit den Ländern, die sich von Brüssel vernachlässigt oder gar ungerecht behandelt fühlen, sorgt Peking geschickt dafür, dass es für Europa immer schwieriger wird, mit einer Stimme zu sprechen – vor allem auch wenn es um eine Strategie gegenüber China geht. Zuletzt hat sich Italien für chinesische Milliardeninvestitionen im Rahmen der Neuen Seidenstraße entschieden – Brüssel war nicht begeistert.

Nun rächt es sich, dass wir in Europa den Aufstieg Chinas über Jahrzehnte hinweg unterschätzt haben. Wir Europäer sind aus moralischem Stolz lieber auf den Schwächen Chinas herumgeritten, anstatt uns mit den Stärken zu beschäftigen.

Dass China nicht mehr „nur“ die Fabrik der Welt ist, sondern inzwischen auch Innovationszentrum mit neuen, dynamischen Silicon Valleys, wie beispielsweise die südchinesische Stadt Shenzhen, gibt dem Staats- und Parteichef Xi Jinping Rückenwind.

China steht erst ganz am Anfang

Inzwischen verfügt nicht mehr ausschließlich der Westen über die beste Technologie, während China den größten Wachstumsmarkt der Welt kontrolliert. Die tief sitzende Angst, noch einmal eine industrielle Revolution zu verpassen, hat Chinas Politiker geradezu gezwungen, Innovation unter fast allen Umständen zu fördern. Das ist erstaunlich gut gelungen. In dem Maße, in dem die Chinesen nicht nur bei Elektroautos oder Hochgeschwindigkeitszügen nun die Technologie und den Wachstumsmarkt besitzen, nimmt auch ihr globaler politischer Einfluss dramatisch zu. Nun haben sie den Markt und in vielen Bereichen auch die Technologie. Übrigens auch die Technologie, ihre Bevölkerung umfassend zu kontrollieren und zu zensieren – ob sie will oder nicht. So erhält die Kommunistische Partei ihre Macht. Dennoch ist das System so attraktiv, dass die meisten chinesischen Studierenden, die im Ausland studieren, inzwischen nach China zurückkehren. China bietet ihnen mittlerweile bessere Chancen als die Wall Street, Airbus oder das Silicon Valley.

Denn eines darf man dabei nicht vergessen: China steht beim Pro-Kopf-Einkommen ungefähr auf der Höhe von Bulgarien. Was wir derzeit sehen, sind also gewissermaßen erst die Lockerungsübungen des erwachenden Riesen, der mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz richtig in Stimmung kommen wird.

Derweil versucht Donald Trump den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas mit aller Macht zu bremsen. Er hat einen Handelskrieg vom Zaun gebrochen und gleichzeitig verboten, dass der chinesische Konzern Huawei seine neueste 5G-Technologie in den USA verbauen kann.

Das Preis-Leistungs-Verhältnis von Huawei ist jedoch weltweit unschlagbar und der Abstand zu den europäischen Wettbewerbern Nokia und Ericsson wird immer größer. Nur wenige andere Länder sind dem Druck von Trump deshalb gefolgt. Nur drei ganz treue Vasallen, nämlich Japan, Australien und Neuseeland. Selbst Boris Johnson ist die Innovationskraft der neuen Technologie für Großbritannien wichtiger als die bisher bloß theoretischen Sicherheitsbedenken. Donald Trump soll getobt haben, als er die Entscheidung von Johnson gehört hat. Es ist eine große Niederlage für den mächtigsten Mann der Welt, dass kaum ein anderes Land seinem Wunsch entsprochen hat. Trump ärgert China, aber er hilft China auch. Er zwingt die Chinesen zusammenzuhalten und sich noch schneller technologisch von den USA unabhängig zu machen als geplant.

Dabei ist Chinas Macht bereits groß: Wer ist mächtiger als die deutsche Autoindustrie? Wer kann sie zwingen, bei den Elektroautos Gas zu geben? Wer hat den längeren Atem gegenüber den Zumutungen von Donald Trump? Wer ist erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg in der Lage, ohne den Westen neue globale Institutionen durchzusetzen, etwa einen Konkurrenten zur Weltbank? Wer ist der größte Gläubiger der Amerikaner? Wer erwirtschaftet einen Handelsbilanzüberschuss, egal wie groß der internationale Druck auch sein mag?

Ohne wen lohnt es sich kaum, den Klima- wandel zu bekämpfen? Die Antwort lautet stets: China. Wie wird die Welt erst aussehen, wenn die Chinesen 2078 das Jubiläum „100 Jahre Öffnungspolitik“ mit eigener Technologie feiern?

Natürlich verläuft kein Aufstieg linear. Dass jedoch nach 150 Jahren Pleiten, Pech und Pannen mal 100 Jahre Aufstieg folgen, ist so unwahrscheinlich nicht. Eben auch, weil China immer mehr Partner in der Welt gewinnt und weil China nun, wie wir am Coronavirus sehen werden, inzwischen seine Krisen konsequent meistert.

Europa muss sich entscheiden

Was fordern die Chinesen? Sie wollen uns nicht unterjochen, aber die Spielregeln der Welt mitbestimmen. Dabei berufen sie sich auf einen westlichen Wert: Mitbestimmung. Wenn wir Mitbestimmung global zu Ende denken, so sagen sie uns, kann dabei nur eines herauskommen: One man, one vote. Jeder Mensch hat eine Stimme. Da haben wir ein Problem: Gemessen an unseren eigenen Standards können wir es uns inzwischen nicht mehr leisten, auf globaler Ebene mal eben eine Ausnahme zu machen und als eine globale Minderheit der Mehrheit unsere Vorstellung der Weltordnung aufzuzwingen.

China fordert nun nichts weniger, als das Jahrhundert der globalen Gleichheit. Dies zu fordern, ist eine Sache. In der Lage zu sein, es durchzusetzen, ist eine andere. Doch genau die Kraft hat China nun allmählich. Immer mehr aufsteigende Länder in Asien, Südamerika und Afrika, die unter den Zumutungen des Westens schon lange leiden, treten der chinesischen Weltbürgerinitiative für mehr globale Gleichheit gerne bei.

Dass China global mehr Mitbestimmung fordert, aber selbst keine Demokratie ist, spielt für diese Länder kaum eine Rolle, selbst dann nicht, wenn sie selbst demokratisch verfasst sind. Viel wichtiger ist: China hat die Macht, die Vorstellungen durchzusetzen, die sich oft mit denen der anderen Aufsteiger decken.

So ist das eben. Wir im Westen haben viel für den Fortschritt getan. Nun tun auch andere etwas für den Fortschritt der Welt, mit anderen Vorstellungen als jenen, die wir haben. Je früher wir uns darauf einstellen, desto eher können wir eine adäquate Strategie entwickeln und umso mehr Spielraum haben wir, unsere Vorstellungen in die neue Weltordnung einzubringen, indem wir entsprechende Koalitionspartner suchen.

Viel Zeit bleibt allerdings nicht mehr. Die Chinesen wollen uns zwar nicht bekehren, aber sie warten auch nicht, bis wir es endlich schaffen, uns zusammenzureißen. Der Virus wird sie kaum bremsen und der Handelskrieg von Donald Trump erst recht nicht. Sie stehen, was ihre globale Politik betrifft, nun eben auf der richtigen Seite der Geschichte. Das Jahrhundert der globalen Gleichheit hat längst begonnen und eine eigene Schwerkraft entwickelt, die niemand stoppen kann.

Noch können wir uns entscheiden: Wollen wir die neuen Zeiten mitgestalten, oder wollen wir die nörgelnden Zuschauer aus der Alten Welt werden?


Erklärung zur Illustration STRATEGEM 18
Hat man den Anführer gefangen, dann hat man die ganze Räuberbande im Griff. Genauso verhält es sich nach chinesischem Verständnis auch mit Widersprüchen. Hat man den Hauptwiderspruch identifiziert, dann beherrscht man im Prinzip auch alle Nebenwidersprüche. Von 1978 bis 2017 war der Hauptwiderspruch der Widerspruch zwischen den wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnissen des Volkes und der rückständigen gesellschaftlichen Produktion. Im Vordergrund standen die materiellen Bedürfnisse des Volkes. Alle Energien lenkte die KP jahrzehntelang in die Lösung dieses Hauptwiderspruchs, wobei alljährliche zweistellige Wirtschaftswachstumsraten im Mittelpunkt des amtlichen Interesses standen. So gelang Chinas Aufstieg zur Wirtschaftsmacht.


Buchtipp

Frank Sieren,

Zukunft? China!

Penguin Verlag, 368 Seiten, 22 Euro

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