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Literatur

Der letzte Fang

Literatur - Der letzte Fang
Dörte Hansen, geboren in Husum, erzählt vom Wandel einer Inselwelt, von alten Gesetzen, die ihre Gültigkeit verlieren, von Aufbruch und Befreiung. © Sven Jaax/Penguin Random House.

Dörte Hansen erzählt in ihrem Roman Zur See vom Abschiednehmen. Das schmerzt, aber es tröstet auch.

Michael Hametner01.12.2022

Der Shanty-Chor war jetzt bei seinem letzten Lied. Die zweite Zugabe, mehr durfte er auch nicht, weil vor der Bühne schon die Trachtengruppe auf ihren Auftritt wartete.“ Dort, wo Dörte Hansens Roman angesiedelt ist, „in Jütland, Friesland oder Zeeland“, wie es heißt, stimmt es nicht mehr. Das Authentische ist verloren gegangen. Folklore kommt von den Trachtenfrauen oder von den Shanty-Männern, die wie Matrosen singen, aber nie welche waren. Die Drenthes haben sich unter Brüssels Fangquoten weggeduckt, den letzten Fang an die Nachbarn verschenkt und ihren Kutter für Urlauber zum Erlebnisfischen umgebaut – und Arne Dierks hat seinen in ein Bestattungsschiff verwandelt.

Festhalten, bevor es weg ist

Dörte Hansen setzt in Zur See, ihrem dritten Roman, ihre Erzählung vom Verlust der Wahrhaftigkeit an der deutschen Nordseeküste fort. Nicht nur dort oben gibt es ihn. Aber dort kennt sie sich aus, hat es über die Jahre miterlebt, denn sie ist 1964 in Husum, der Theodor-Storm-Stadt, geboren und lebt dort. In Husum gibt es einen Hafen, in dem bei Ebbe die Schiffe bedenklich absinken und sich auf dem Schlickgrund aufstützen. Und worauf stützt sich die Tradition? Wer nach vorn schaut, wird sagen: Wir leben im Zeitalter der Digitalisierung. Wer zurückblickt, wird feststellen: Wir leben im Zeitalter der Abschiede. Das war bei unseren Eltern und Großeltern nicht anders, das war nie anders. Trotzdem tut es weh.

Dörte Hansen erzählt es so, dass es wehtut. Pastor Lehmanns Frau nimmt sich ein Zimmer auf dem Festland und lässt ihren Mann wochentags allein. Ryckmer Sander, der einmal Kapitän auf großer Fahrt war, hat sich „heruntergetrunken“. Nicht einmal als Decksmann auf der Fähre wollen sie ihn. Vielleicht hat er noch einmal Glück, denn er übernimmt das Bestattungsboot. Eske Sander, Ryckmers Schwester, drängelt die Touristenautos an die Straßenränder, wenn sie über die Insel fährt.

Dörte Hansen kennt sich aus. Vieles hat sie in ihren Roman aufgenommen, was nach Abschied riecht: Jens Sander, der Vater, gibt nach 20 Jahren seine Arbeit als Vogelwart auf und verlässt das Driftland, um wieder zurück zu Hanne, seiner Frau, zu ziehen. Hanne öffnet jeden Morgen in ihrer Tracht das Heimatmuseum. Sie kämpft jetzt um das Skelett des gestrandeten Pottwals, das im Vorgarten des Museums ausgestellt werden soll. Eske setzt sich abends zu den Alten im Heim und nimmt mit ihnen ihre Geschichten in einer Sprache auf, die bald niemand mehr sprechen wird. Wenn die Feldforschung beginnt, will man schnell noch festhalten, was verloren gehen könnte.

Am Ende fehlt einer

Die Autorin baut ein großes Panorama auf, dessen Überschrift heißt: Zeitenwechsel. Die Vorfahren der Inselmenschen von heute waren drei Jahrhunderte davor noch Walfänger vor Grönland. Als plötzlich ein Wal bei ihnen strandet, weil er „falsch abgebogen“ ist und sich in der Nordsee zu ihnen verirrt hat, bekommt das große Sterben reale Bilder und ist zugleich Metapher. Sie wissen nicht mehr, wie man einen Wal zerlegt. Nicht nur der Gestank, zuerst die Angst davor, er könnte von den Fäulnisgasen, die sich im Kadaver ansammeln, explodieren, treibt die Insulaner zur Eile. Trotzdem fehlen am nächsten Morgen Zähne, die Trophäenjäger herausgesägt haben. Das Sterben und Ausweiden des Wals ist die größte Szene im Roman und steht in seiner Mitte, wie ein Menetekel für den Abschied.

Im Zentrum des Erzählens steht die Familie Sander: mit den Eltern Jens und Hanne und den drei Kindern Ryckmer, Eske und Henrik. Jens war früher, ehe er abmustern musste, auch Kapitän gewesen. Vogelwart und Tierpräparator wurde er, weil er es zu Hause nicht mehr aushielt. Seine Frau hatte angefangen, jeden freien Platz im Haus an Feriengäste zu vermieten. Als es ihn wieder zurückzieht, geistert er zuerst heimlich durchs Haus, wenn er die Frau in ihrem Museum weiß, ehe er sich ins 20 Jahre verwaiste Ehebett schleicht. Hanne hatte die Flucht ihres Mannes klaglos hingenommen. Sie war nie eine Seemannsfrau, die ihr Leben lang gewartet hat. Der Älteste, heute 40, ist Sohn Ryckmer. Er hat bisher alle Chancen seines Lebens im Alkohol verspielt. Seine Schwester arbeitet als Pflegerin im Altenheim. Wenn sie schlecht drauf ist, sieht sie sich noch als tätowierte Inselfrau der nächsten Generation beim Sterben helfen. Sie vermisst die Wahrhaftigkeit am meisten. Henrik, das jüngste der drei Geschwister, ist ein Naturkind, das aus Fundstücken, die das Wasser geschliffen hat, Kunst macht.

Alle fünf nennt die Autorin „Sanderlinge“, was angesichts ihrer Eigenarten auch für Sonderlinge stehen darf und die Figuren den Lesern besonders nahebringen dürfte. Dass am Ende des Romans einer fehlt, sei hier gesagt, ohne zu verraten, wen das Unglück auf dem Zettel hat. Um sie herum gruppiert Dörte Hansen ein Dutzend andere Inselbewohner: die alte Frau Loop zum Beispiel, die ihren Hund in einem Babygestell vor dem Bauch trägt, weil er nicht mehr laufen kann, so überfüttert hat sie ihn. Und Pfarrer Lehmann, der im Gästebuch immer wieder anonyme Einträge findet, in denen er ein Lügner und Heuchler genannt wird, was ihn schließlich in eine Krise stürzt, die er „Pastoritis“ nennt.

Ein letztes Aufflackern

Das Erzählen bedient keine Handlung, die voranschreitet. Dörte Hansen zeichnet ein Panorama von einer Welt, von der es Abschied zu nehmen gilt. Die Atmosphäre ähnelt einem Bild vom Meer ohne Horizont, wie es sich an Tagen mit verhangenem Himmel zeigt, wenn Wasser und Himmel eins werden. Zwar lässt Goethe seinen Mephisto im Faust sagen: „Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht!“, aber mit Weisheiten ist der Mensch selten getröstet. Dies gelingt Dörte Hansen in ihrem Roman Zur See. Und zwar nicht, weil sie plötzlich die Zeit anhält und für das alte Leben eine Ewigkeit aus ihrem literarischen Hut zaubert, sondern weil sie alles, was da auf Abschied steht, noch einmal beschreibt und allem noch einmal eine Stimme gibt. Sie macht dies an vielen Stellen mit einer sprachlichen Genauigkeit, dass daraus Würde und Schönheit genauso wie Schmerz und Trauer erwachsen.

Die ersten Romanseiten handeln vom Frieren. Der Decksmann auf der Fähre friert. Es heißt: „Sein Vater, seine Brüder, seine Onkel frieren jetzt vielleicht auf einem Krabbenkutter, einem Frachter, einem Seenotrettungskreuzer, einem Ausflugsdampfer, einer Bohrinsel, und alle halten klaglos eine kleine Unterkühlung aus, als müssten sie den Vorfahren Respekt bezeugen.“ In diesem Anfang ist der Grundton des Romans wie in einer Ouvertüre angeschlagen. Zur See handelt von allem, womit uns das Meer anzieht, aber er handelt auch vom Frieren.


Infos

 

Dörte Hansen

Zur See

Penguin Verlag 2022,

256 Seiten, 24 Euro