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Die Grünen und ihr Kampf um die Kügelchen

Titelthema - Die Grünen und ihr Kampf um die Kügelchen
© Illustrationen: Andrea Ucini

Ausgerechnet die Homöopahtie bietet den Sprengstoff, eine demonstrativ harmonische und geschlossene Partei zu spalten. Woran liegt das?

Ansgar Graw01.02.2020

A s der Grünen-Vorstand Mitte Januar vor innerparteilichen Friktionen kapitulierte und verkündete, eine zwei Monate zuvor auf dem Bielefelder Parteitag beschlossene Kommission zur Klärung der Position zur Homöopathie werde es nun doch nicht geben, war die Partei ihren Wurzeln mindestens so nahe wie ihrer Zukunft. In ihrer 40-jährigen Geschichte beschworen die Grünen häufig die Vernunft – und argumentierten aus einer Nähe zur Esoterik. Der Technik begegnete und begegnet man mit größter Skepsis, von der Kernkraft über Funkmasten und das Privatfernsehen bis zum Auto mit Verbrennungsmotor, und die Natur wird romantizistisch verabsolutiert – Eisenbahn ist besser als Autobahn, aber wenn Eidechsen bedroht sind, darf ein neuer Bahnhof nicht gebaut werden.

Aggressiv, teilweise polemisch
Dieser alte Konflikt holte die Partei in der Debatte um Homöopathie und Globuli, um nicht mehr messbare Wirkstoffe und die erfahrene Wirkung von Placebos wieder ein. Weil es im Vorfeld des bei den Grünen ausgesprochen emotional diskutierten Themas zu Indiskretionen und wechselseitigen Attacken gekommen war, verkündete der Parteichef Robert Habeck den Verzicht auf die beschlossene „Kügelchen-Kommission“.

Die Debatte sei „von Anfang an durch einen aggressiven und teilweise polemischen Ton beschwert“ worden, heißt es in dem Vorstandsbeschluss. In kleinem Kreis klagte ein hochrangiges Vorstandsmitglied, „erstmals“ seien Einzelheiten aus internen Gesprächen an Journalisten weitergegeben worden mit dem Ziel, die Gegenseite zu diskreditieren.

Wie hältst du es mit Homöopathie? Wie stehst du zur Anthroposophie? Die Kommission war beschlossen worden, um einen besonders strittigen Punkt von der Bielefelder Agenda zu räumen. Der Parteitag sollte streitfrei bleiben und mit der eindrucksvollen Wiederwahl von Habeck und einem Rekordergebnis für seine Doppelspitzen-Partnerin Annalena Baerbock das Signal harmonischer Geschlossenheit aussenden. Doch der Versuch ist gescheitert. Jetzt muss der Vorstand im Dialog mit Gegnern und Befürwortern der Homöopathie selbst eine Position entwickeln und voraussichtlich im Mai vorlegen, zusammen mit dem Entwurf des neuen Grundsatzprogramms, das im Herbst verabschiedet werden soll.

Anthroposophische Grüne
Wenn man bei den Grünen nach dem Ur-Anthroposophischen sucht, dann landet man beispielsweise bei Otto Schily: Der Jurist aus großbürgerlichem Haus, der die Umweltpartei 1980 mitbegründete, erzählte einmal von einem seiner vier Brüder, Michael, der als kleiner Junge einen schweren Herzfehler hatte. Weil ihm die Ärzte nur noch ein Jahr gaben, wandten sich die verzweifelten Eltern an einen anthroposophischen Mediziner. Der Kleine müsse ein Jahr absolute Bettruhe halten, sagte dieser. „Nach dem Jahr war er geheilt. Michael wurde der Kräftigste von uns Brüdern“, blickte Schily, Jahrgang 1932 und später SPD-Bundesinnenminister, in einem Zeit-Interview zurück.

Zu den grünen Anthroposophen der 80er Jahre gehörten der Künstler Joseph Beuys und der langjährige Bundesgeschäftsführer Lukas Beckmann. Die antiautoritären Anthroposophen waren neben konservativen Ökologen, sendungsbewussten Feministinnen, undogmatischen Spontis, marxistischen Klassenkämpfern und weltfernen Pazifisten prägend für die frühe Phase der Partei. Sie beanspruchten ein „ganzheitliches Menschenbild“. Man nahm für sich einen alternativen Lebensstil in Anspruch, und die alternative Medizin in ihren diversen Ausprägungen gehörte zu diesem esoterischen Selbstverständnis.

Die Gegenströmung bei den Grünen wurde gerade erst, im September 2019, von einem 19-jährigen Parteimitglied ausgelöst. Tim Demisch, Student der Politikwissenschaft in Berlin, hatte im Vorfeld des Bielefelder Parteitags zusammen mit acht Mitstreitern auf der Website der Partei jenen Antrag V-01 gestellt, nach dem die Grünen wegen „fehlender Wirksamkeit“ die „Bevorteilung der Homöopathie beenden“. Gesetzliche Krankenkassen dürften nicht länger die Kosten homöopathischer Behandlungen erstatten.

Das rief wütenden Widerspruch auf den Plan, samt zweier Pro-Homöopathie-Anträge. In einem davon wurde unterstellt, es gehe in der Debatte „erkennbar nicht um wissenschaftliche Klärung, sondern um einen von Homöopathiegegner*innen inszenierten Glaubensstreit darüber, dass potenzierte Mittel aus Prinzip nicht wirken können, da sie ja keine wirksamen Substanzen enthielten“.

So kam es nach hektischen Verhandlungen der Parteitagsregie hinter den Kulissen schließlich zur vermeintlich salomonischen Lösung, eine Kommission über das Verhältnis von Schul- und Komplementärmedizin in der gesundheitspolitischen Programmatik der Grünen befinden zu lassen.

Nachwuchs fordert Pragmatismus
Die Fronten im Kügelchen-Krieg lassen sich grob an den Jahrgängen festmachen. Hinzu kommt ein Süd-Nord-Gefälle mit weniger Akzeptanz für Homöopathie bei den Grünen im Norden und ihrer starken Verankerung in Bayern und vor allem Baden-Württemberg. So sind es vor allem Nachwuchskräfte aus der Grünen Jugend, die in ihrer zumeist antikapitalistischen Verortung („Burn capitalism not coal“) ein gehöriges Maß an Ideologie mitbringen, aber in der HomöopathieFrage Pragmatismus und Fakten einfordern. „Vereint euch hinter der Wissenschaft“, verlangen sie – ganz im Sinne des Anspruchs von Greta Thunberg und der Fridays-for-Future-Bewegung, die ihre Klimapolitik im Einklang mit der Forschung sehen. Laborwerte sollen auch ausschlaggebend sein für das Gesundheitswesen, nicht anekdotische Erfahrungen, wie sie Schily bei seinem Bruder erlebte.

Das soll Wissenschaft sein?
Denn der zentrale homöopathische Ansatz, „Ähnliches mit Ähnlichem“ zu behandeln, also beispielsweise die Symptome eines Bienenstichs mit dem Gift einer Biene, hat eine immense Schwachstelle: Die Wirkstoffe, mit denen Präparate wie vor allem winzige Streukügelchen aus Saccharose, auch bekannt als Haushaltszucker, benetzt werden, sind entsprechend den maßgeblich vom Thüringer Arzt Samuel Hahnemann (1755–1843) entwickelten Regeln so stark verdünnt, dass sie molekular nicht mehr nachweisbar sind. Die Verdünnung wird gerechnet in Potenzen, und eine C-12- oder D-24-Potenz erhält man ungefähr, wenn man ein Gramm eines Wirkstoffes in der Wassermenge auflöst, die im Pazifischen und Indischen Ozean zusammen enthalten sind. Es gibt noch deutlich „dünnere“ Konzentrationen.

Und das soll Wissenschaft sein? Die Leipziger Ärztin und Grünen-Politikerin Paula Piechotta sagte im Vorfeld von Bielefeld, in der Partei habe die „Debatte Fahrt aufgenommen, ob wir nur dann glaubwürdig in der Klimapolitik wissenschaftliche Fakten als politische Entscheidungsgrundlage einfordern können, wenn wir dies in allen Themenfeldern als Maßstab an unsere Politik anlegen“.

Jetzt, nach der Absage der Kommission, ist Demisch, der Piechotta inhaltlich nahesteht, „zuversichtlich“, dass der Kurs des Bundesvorstands „in eine Richtung gehen wird, die mit wissenschaftlicher Evidenz im Einklang steht“. Sein Parteifreund Ulrich Geyer aus dem Kreisverband Heidenheim, ein Arzt für Innere Medizin und Naturheilverfahren, der den zitierten Pro-Homöopathie-Antrag formuliert hatte, ist hingegen von der Wirksamkeit von Globuli überzeugt. Etliche Studien „deuten auf eine Wirksamkeit der Homöopathie hin“, sagte der Grüne gegenüber tagesschau.de.

„Deuten hin“? Die renommierte Helmholtz-Gemeinschaft als Verbund deutscher Spitzenforschung kommt zu einem sehr dezidierten Ergebnis: „Die Wissenschaft hat eine klare Antwort. Homöopathische Mittel allein wirken nicht gegen die Beschwerden, gegen die sie empfohlen werden. Das ist schon seit Jahrzehnten wissenschaftlich erwiesen.“

Aber, so schreibt Helmholtz weiter, „es scheint, als habe die Homöopathie den Placeboeffekt perfektioniert. Aus der Patientenperspektive ist es egal, wie und warum ihnen geholfen wird.“

Die grüne Bundestagsabgeordnete Kordula Schulz-Asche, die wie Demisch, Piechotta und Geyer der Kommission angehört hätte, resümiert: „Es gibt keinen wissenschaftlichen Nachweis, dass Homöopathie wirkt – aber unabhängig davon stellt sich die Frage, ob die therapeutische Nutzung der Homöopathie eine Wirkung erzielt.“ Der Mensch sei „ein kompliziertes Wesen – und kein Reagenzglas, in das man verschiedene Substanzen gießen kann, um dann eine ganz bestimmte Wirkung zu erzielen“.

Ohne Kompromiss geht es nicht
Homöopathie kann nicht wirken, sagt die Vernunft. Und scheint es doch zu tun, sagt die Erfahrung vieler Menschen. Mit Wissenschaft alleine lässt sich der Dissens nicht lösen. Gilt das nicht auch für andere Fälle? Wenn Wissenschaftler trotz weiterhin rasant steigender Weltbevölkerung eine radikale Reduzierung von Kohlendioxid-Emissionen fordern, mag das als Entscheidungsgrundlage ebenfalls unzureichend sein. Denn Arbeitgeber wie Arbeitnehmer wollen nicht auf Wachstum, Konsumenten nicht auf neue Produkte, Urlaubswillige nicht auf den nächsten Flug verzichten, und wer außerhalb der Metropolen rasch von A nach B möchte, mag nicht warten, bis ein erschwingliches, reichweitenstarkes Elektroauto zur Verfügung steht, dessen Batterie nur aus erneuerbaren Energien geladen wird. Vielleicht sprengt nicht nur die Homöopathie das knappe Richtig-oder-falsch-Raster.