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„Wenn es Rotary Clubs nicht gäbe, müsste man sie erfinden!“

Rotary Aktuell - „Wenn es Rotary Clubs nicht gäbe, müsste man sie erfinden!“
Dr. Joachim Faude (Rotary Club Mittelmosel-Wittlich) war bis 2019 Chefarzt der Fachabteilung für Psychosomatische Medizin am Verbundkrankenhaus Bernkastel/Wittlich © Privat

Zum Selbstverständnis von Mitgliedern, das soziale System in Clubs und gruppendynamische Prozesse bei Rotary

01.08.2020

Rotarier*in zu sein ist angenehm. Die Attraktivität einer Mitgliedschaft bei uns entsteht durch Impulse, die den eigenen Horizont weiten, durch das gute Gefühl, hilfreich handeln zu können und durch den Stolz, einer Gemeinschaft an- zugehören, die zumindest im Selbstverständnis hohe Reputation genießt. Aber reicht der Hinweis auf die narzisstische Befriedigung als Erklärungsmodell aus, um zu beschreiben, warum wir über viele Jahre – in Deutschland und Österreich meist lebenslang – Rotarier*in blei- ben? Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie und den Versuchen, per Video die Meetings aufrecht zu erhalten, wird deutlich, wie sehr wir als Rotarier gruppendynamischen Prozessen bei Meetings ausgesetzt sind und wie diese Einfluss nehmen auf unsere Befindlichkeit und unsere Reaktionslage auch auf der Handlungsebene. Viele hatten anfangs keinerlei Interesse an Videomeetings, andere wollten „durchhalten“ und dem Virus trotzen, wieder andere spürten, dass die persönliche Bezie- hung beim Meeting durch ausschließlich virtuelle Begegnungen wohl doch nicht zu ersetzen ist.

Bindung durch Strukturen

Gruppendynamisch gesehen wird Bindung durch Strukturierung von Gruppen gestärkt. Im psychotherapeutischen Bereich kennt man diese Effekte durch den Einfluss des Gruppenleiters oder Therapeuten und der geschickten Patientenselektion. Jeder Gruppentherapeut weiß, dass er „seiner Gruppe“ nur sehr wenige Patienten zumuten darf, die schwere strukturelle Störungen aufweisen. Bei Rotary kennen wir die Notwendigkeit eines Präsidenten und achten auf die Förderung der Grup- penkohärenz per Aufnahmeselektion durch den Aufnahmeausschuss. Die Gefahr, dass die Präsidenten als Gruppenleiter zu rigide hierarchische Strukturen fördern und damit dem Prozess schaden, begegnen wir mit jährlichem Präsidentenwechsel sowie Kontakten außerhalb der Meetings.

Das soziale System einer Gruppe konstituiert durch Aktivitäten, Interaktionen und Gefühle der Gruppenmitglieder sowie den gegenseitigen Beziehungen dieser Elemente. Gefühle sind motivierend und fördern Aktivitäten. Ist die Aktivität vorbei, schwindet auch das Motiv zur Handlung – wie im Verlauf eines Clubjahres: Präsidenten setzen Hand- lungsschwerpunkte und die Mitglieder engagieren sich dafür – mal mehr, mal weniger. Wenn das rotarische Jahr sich dem Ende nähert, schwindet in aller Regel das Engagement und es folgt eine Phase, in der der Past-Präsident rotarisch pausiert und der neue Präsident andere Aktivität entfaltet und so die Mitglieder neu motiviert. Man sieht: Diese Funktionsrotation ist bei Rotary unabdingbar.

Anpassung stärkt das Gleichgewicht

Ein wichtiger Grund für das Zusammengehörigkeitsgefühl sind gemeinsame normative Vorstellungen zu soziologischen Kernfragen wie zum Beispiel der Umgang mit Fremdheit, Hilfsbedürftigkeit oder dem sogenannten Generationenkonflikt. Allerdings: Je länger ein Club besteht, je heterogener die Zusammensetzung der Mitglieder ist und je breiter der Altersunterschied der Mitglieder sich entwickelt, desto größer ist auch die Gefahr der Bildung von Untergruppen mit dem Potential zu rivalisieren oder sich zurückzuziehen. Hier kann nur die gemeinsame Idee Zentrifugalkräfte abschwächen. Die Reaktionsweisen von Gruppen lassen erkennen, wie intensiv der Anpassungsprozess an verschiedenste Veränderungen und Entwicklungen in einer Gesellschaft zum Vorschein kommt. Diese Anpassungsleistung einer Gruppe stärkt wiederum das Gruppengleichgewicht und das Zusammengehörigkeitsgefühl. Ganz nach dem Motto: „Was haben wir alles gemeinsam schon erlebt und gemeistert“. Wenn es Rotary Clubs noch nicht gäbe, müsste man sie erfinden!

Dr. Joachim Faude