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Titelthema

Vier Mütter und ein Grundgesetz

Titelthema - Vier Mütter und ein Grundgesetz
© Bestand Erna Wagner-Hehmke/Stiftung Haus der Geschichte

Vier Frauen haben an der Entstehung unserer Verfassung maßgeblich mitgewirkt. Doch wer waren sie, und was ist von ihnen geblieben?

Dietmar Preißler01.05.2024

Eigentlich haben Kinder in der Regel eine Mutter. Doch das Grundgesetz ist in der glücklichen Lage, mit vier Müttern – neben 73 Vätern – prahlen zu können: Friederike Nadig (SPD), Elisabeth Selbert (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum).

Im Ranking der öffentlichen und historischen Wahrnehmung steht vor dem Hintergrund der Frauengeschichtsforschung sicherlich die promovierte Rechtsanwältin Elisabeth Selbert (1896–1986) mit weitem Abstand an erster Stelle. Denn nur ihrem hartnäckigen Insistieren ist es zu verdanken, dass der Artikel 3 Abs. 2 GG „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ in dieser Eindeutigkeit Eingang in unsere Verfassung gefunden hat und dass damit die Frauen nicht nur staats-, sondern auch zivilrechtlich den Männern gleichgestellt wurden. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Tätigkeit lag im Ausschuss für Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtspflege. Sie trat für das Leitbild eines der demokratischen Verfassung gegenüber des verantwortlichen Richters anstelle eines wertneutralen Gesetzesinterpreten ein. Nach Abschluss der Arbeit des Parlamentarischen Rats blieb ihr wegen fehlender Unterstützung in der eigenen Partei eine größere politische Karriere auf Bundesebene versagt. Sie war von 1946 bis 1958 jedoch noch Mitglied des hessischen Landtags. Durch die Frauengeschichtsforschung über die Arbeit des Parlamentarischen Rates wird sie zu einer Ikone der Emanzipation.


 Artikel 3 (2)

Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.


Friederike Nadig (1897–1970), Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt Ostwestfalen und Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags, unterstützte Selbert vehement. Darüber hinaus kämpfte sie für die rechtliche Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern und zählte zu den aktivsten Befürworterinnen des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Von 1949 bis 1966 setzte sie ihre politische Arbeit als Bundestagsabgeordnete der SPD erfolgreich fort.

Helene Weber (1881–1962) war ausgebildete Lehrerin, Ministerialrätin im preußischen Kultusministerium und Abgeordnete des Zentrums im Reichstag. 1947 trat sie der CDU bei und gilt im Rückblick als „einflussreichste Frau der Union“ in der Gründungsphase der Bundesrepublik. Im Parlamentarischen Rat gehörte sie als Schriftführerin dem Präsidium an. Sie trat entschieden für die Verankerung des Elternrechts im Grundgesetz ein. In Fragen der Gleichberechtigung war sie von einem tradierten Weltbild geprägt: staatsbürgerliche Gleichheit und Lohngleichheit ja, Zurückhaltung bei voller Gleichstellung im Ehe- und Familienrecht. Dennoch schlug sie sich zuletzt auf die Seite Selberts. Von 1949 bis 1962 vertrat sie die CDU als Abgeordnete im Deutschen Bundestag.

Helene Wessel (1898–1969) war wie Helene Weber vom katholischen Milieu geprägt und daher Funktionärin in der Zentrumspartei, unter anderem Mitglied in deren Reichsvorstand. Unmittelbar nach Kriegsende war sie an der Wiedergründung der Partei beteiligt und wurde 1946 zur Mitvorsitzenden gewählt. Sie war damit die erste weibliche Parteivorsitzende in Deutschland. Als Vertreterin des linken Flügels ihrer Partei vertrat sie eine Position zur Stärkung des Sozialstaats im Grundgesetz. Volksentscheide waren für sie von großer Bedeutung. Da sie ihre Auffassung von tradierten christlichen Wertvorstellungen bei Ehe und Familie und von sozialstaatlichen Grundrechten nicht durchsetzen konnte, stimmte sie am 8. Mai 1949 nicht für das Grundgesetz. Später wurde sie engagierte Gewerkschafterin und Abgeordnete im Bundestag für die SPD.

Vier starke Frauen haben ihre Spuren bei der Entstehung des Grundgesetzes hinterlassen und verdienen es, dass sie Teil unseres kulturellen Gedächtnisses werden und dass wir uns über einprägsame Fotos ein Bild von ihnen machen können. Ein glücklicher Umstand hierbei ist, dass der Chef der Staatskanzlei in Düsseldorf Hermann Wandersleb als verantwortlicher Organisator des Parlamentarischen Rats eine Fotografin beauftragte, dessen Arbeit bildlich zu dokumentieren: Erna Wagner-Hehmke. Sie schuf einen Corpus von etwa 1200 Fotografien, der sich heute im Bestand des Hauses der Geschichte in Bonn befindet. Hierbei handelt es sich zumeist um klassische Ereignisdokumentation. Doch den vier Damen widmete die Fotografin eine eigene Session und schuf so eine Serie von 18 inszenierten Motiven, auf denen sie die vier Verfassungsmütter zusammen überzeugend ins Bild setzte: eine Bildikone zur deutschen Verfassungs- und Frauengeschichte.


Das Internetprojekt „Beobachtungen – Der Parlamentarische Rat 1948/49“ (parlamentarischerrat.de) stellt die wichtigsten Bilder vor, bringt alle bekannten Tonbeiträge und gibt einen spannenden historischen Überblick über die Entstehung des Grundgesetzes. 

Dietmar  Preißler
Dr. Dietmar Preißler war bis 2022 erster Sammlungsdirektor der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Er befasste sich hierbei intensiv mit der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes.