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Titelthema

Veggie ist das neue Tech

Titelthema - Veggie ist das neue Tech
© Daniel Ammann/Madame Tricot Delicatessen/Arnoldsche Art Publishers

Lange galten Gadgets als bevorzugte Spielwiesen für Start-ups. Nun erfinden junge Unternehmen auch Fleisch neu – das ist ökologisch und wirtschaftlich klug.

Daniel Erk01.07.2019

Manchmal haben Epochenwechsel ein exaktes Datum. Etwa den 16. Mai 2019: An jenem Donnerstag ging das US-amerikanische Unternehmen Beyond Meat an die New Yorker Börse – und vervielfachte prompt den Wert seiner Aktien innerhalb nur weniger Wochen. Und bescherte damit nicht nur sich selbst, sondern auch der gesamten Fleischersatz-Branche einen veritablen Boom in Sachen Geld, Kunden und Aufmerksamkeit.

Dass Start-ups beim Börsengang mit derartigem Erfolg starten, ist an sich keine Überraschung mehr: Das soziale Netzwerk Facebook, die Taxi-Dienstleister Uber und Lyft, auch der chinesische Tech-Händler Ali Baba, sie alle sind klein gestartet, zügig gewachsen und schließlich an die Börse gegangen. Dass aber einer der erfolgreichsten Börsengänge der vergangenen Jahrzehnte ausgerechnet einem Hersteller von fleischfreiem Fleisch gelang, war für viele eine Überraschung. Viele Analysten fragten verwundert: Ist Veggie nun das neue Tech? Sind das die neuen großen Innovationen aus dem Silicon Valley, die in Windeseile den Globus erobern werden?

Dabei ist der Erfolg von Beyond Meat auch in dieser Größenordnung eigentlich nur logisch: Seit Jahren laufen Diskussionen über die verheerenden Auswirkungen der Massentierhaltung – für Mensch und Umwelt. Seit Jahrzehnten wird die Kritik am oft grausamen Tod vieler Millionen Tiere pro Jahr immer lauter. Die Absatzzahlen der großen Billigfleischproduzenten steigen schon lange nur noch, weil der westliche Lebensstil mit seinem Hunger nach unverhältnismäßig günstigem Fleisch global auf dem Vormarsch ist. Und weil die Weltbevölkerung weiterhin rapide wächst.

Dass Beyond Meat, das verspricht, 90 Prozent weniger Treibhausgasemissionen und auch weniger Wasser und Strom als für die vergleichbare Menge an tierischem Fleisch einzusetzen, seinen Wert von 25 Dollar auf derzeit rund 140 Dollar pro Aktie steigern konnte, ist daher ein klares Zeichen: Die Zeiten, in denen für Fleisch unbedingt Tiere sterben mussten, sind angezählt. Der Epochenwechsel ist da. Und das nicht nur an der Börse – wie die immense Nachfrage nach den Burger-Patties von Beyond Meat in den Filialen des Discounters Lidl zeigte.

Dass fleischfreies Fleisch eben in diesem Jahr auf den Markt drängt, hat dabei einen simplen Grund: Eigentlich alle internationalen, aber auch deutschen Anbieter haben ihre Produkte aus pflanzlichen Zutaten in den vergangenen Jahren derart gut weiterentwickeln können, dass sie auf dem nicht-vegetarischen und erst recht auf dem nicht-veganen Massenmarkt Zuspruch erhalten. In den USA wirbt Beyond Meat mit dem Hinweis: Find it in the meat aisle (finde es im Fleischgang).

Denn der Burger von Beyond Meat ist eben kein halbgares Ersatzprodukt aus Soja oder Erbsen, mit dem allein ideologisch wackere Fleischverächter und bekennende Tierschützer überzeugt werden können. Sondern der erste vegane Burger, der nicht mehr nach Verzicht und Vernunft schmeckt – sondern nach Fleisch: Durch eine spezielle Rezeptur und Bearbeitungsmethode erhalten die Burger eine Faserung und Farbe wie Hackfleisch, werden beim Braten bräunlich, entwickeln durch Rote-Bete-Saft eine blutige Saftigkeit und durch Raucharomen Röststoffe wie Burger aus Tieren. Und das gilt für alle Produkte der neuen Szene: Sie behaupten nicht mehr nur, wie Fleisch zu schmecken, sie tun es.

Burger-Giganten auf Veggie-Welle
So hat auch der von Nestlé entwickelte „Incredible Burger“ eine ähnliche Erfolgsgeschichte vorzuweisen – und zwar im Epizentrum des günstigen Fleischs: bei McDonald’s. Zunächst sollten die neuen veganen Burger, auf denen der Nestlé-Patty liegt, nämlich erst einmal nur in einzelnen Filialen in Finnland angeboten werden. Dann wurde der Testlauf fix auf ganz Finnland und Schweden, zwei im Vergleich zu Deutschland fortschrittlichen Märkten, ausgeweitet. Dann aber verkaufte McDonald’s 150.000 Burger mit tierfreien Bratlingen innerhalb von nur drei Monaten. Und erweiterte daraufhin mit dem „Big Vegan TS“ das vegane Sortiment auch in Deutschland, immerhin einem der fünf größten Absatzmärkte.

Mit dem Markt wächst auch die Konkurrenz: In Großbritannien arbeitet Moving Mountains an einem Konkurrenzprodukt namens „The Flexitarian Burger“, aus Kalifornien stammt der Hersteller Impossible Foods, der an Fleischersatz aus dem Labor arbeitet, das komplett ohne pflanzliche Basis und die bei Beyond Meat notwendigen Zusatzstoffe auskommt, dafür aber genmanipulierte Nahrungsbestandteile nutzt, die in Europa nur schwer auf den Markt zu bringen sind. Aber auch die großen Lebensmittelkonzerne in den USA rüsten nun nach: Die zu Kellogg gehörende Marke Morningstar Farms hat längst pflanzliche Chicken Nuggets, Burger und klassisch amerikanische Wurstbratscheiben im Sortiment. Und Tyson Foods, der größte Produzent tierischen Fleischs in den USA, will schon diesen Sommer Hähnchen-Nuggets auf den Markt bringen, die rein aus pflanzlichen Zutaten bestehen. Burger-Patties aus tierischem und pflanzlichem Eiweiß sind bereits in Planung.

Die Briten und Amerikaner sind natürlich nicht die Einzigen, die verstanden haben, dass Fleisch aus Pflanzen nicht nur für Tier und Erde, sondern auch für Bilanz und Umsatz zunehmend wichtig sind. Aldi Nord, Aldi Süd und Edeka etwa haben längst hauseigene vegetarische oder vegane Lyoner-, Salami- oder Mortadella-ähnliche Produkte im Angebot. Auch die Biound Vegananbieter Alnatura und Veganz bieten seit geraumer Zeit Wurst ohne Tier und meist auf Soja- oder Tofu-Basis an. Auch die aus dem Münsterland stammende PHW-Gruppe, bekannt für die Geflügelbratwurst Bruzzzler, investiert zunehmend in tierfreie Alternativen, ebenso die zu PHW gehörende Hühnchenmarke Wiesenhof, die den Deutschlandvertrieb der Burger von Beyond Meat organisiert und gleich in eine Reihe von pflanzlichen Ersatzprodukten aus den USA investiert, etwa in den Rührei-Produzenten Just Egg oder den Fischersatz-Hersteller Good Catch.

Der niedersächsische Wursthersteller Rügenwalder Mühle aber gilt in Deutschland als Vorreiter: Rügenwalder hat schon 2014 seine Produktpalette erweitert und bereits 24 vegetarische und darüber hinaus acht vegane Wurst- und Fleischprodukte im Sortiment. Auch hier ist die Bilanz durchweg positiv: Der Marktanteil von vegetarischem Fleischsalat bis zu vegetarischer Streich- und Bratwurst, die ihren Geschmack allerdings oft aus der Beigabe von Eiklar erhalten, wuchs allein 2018 um 16,2 Prozent und machte am Ende des vergangenen Jahres fast ein Drittel des Umsatzes der Rügenwalder Mühle aus. Nämlich knapp 80 Millionen Euro – in etwa so viel, wie auch Beyond Meat im vergangenen Jahr umsetzte. Vom ursprünglichen Plan, bis 2020 gut 40 Prozent des Umsatzes mit vegetarischen Produkten zu machen, so Rügenwalder-Geschäftsführer Godo Röben jüngst in einem Interview, könne er sich vermutlich bald verabschieden. Weil das Ziel wohl schon früher erreicht werde.

Ein Milliardengeschäft
So ergeht es dem gesamten Markt. „Wir stehen vor nichts weniger als dem Ende der Fleischproduktion, wie wir sie kennen“, prophezeit etwa Carsten Gerhardt, Landwirtschaftsexperte beim Analysehaus A.T. Kearney. „Bereits 2040 werden nur 40 Prozent der konsumierten Fleischprodukte von Tieren stammen“, ist er sicher. Auch die Analysten von JP Morgan erwarten daher, dass in 15 Jahren knapp 100 Milliarden Dollar Umsatz mit fleischfreiem Fleisch gemacht wird. Bei Barclays glaubt man sogar an ein Marktvolumen von 140 Milliarden Dollar – schon in zehn Jahren.

Der zu erwartende Boom stammt nicht allein aus pflanzenbasiertem Fleisch, auch aus Tierzellen in Laborkulturen gezüchtetes Fleisch dürfte bald einen erheblichen Marktanteil erzielen. Andere Experten gehen derweil davon aus, dass der Markt spätestens um 2040 gedrittelt sein wird: ein Drittel herkömmliches Fleisch aus der Schlachtung, ein Drittel gezüchtetes Fleisch aus dem Labor und ein Drittel Fleischersatz aus Pflanzen.

Die ideologischen Diskussionen über Fleischverzehr dürften dann der Vergangenheit angehören. Selbst hartnäckige Fleischfans, und davon gibt es viele, dürften perspektivisch vom Geschmack und Preis der Alternativen überzeugt sein. Oder vom wirtschaftlichen Erfolg: Selbst Christian Lindner von der FDP verriet kürzlich, Aktien von Beyond Meat gekauft zu haben. 

Daniel Erk
Daniel Erk ist Journalist, Buchautor und Blogger. Er schreibt unter anderem für Zeit Online, den Tagesspiegel, Spiegel Online, die Frankfurter Rundschau und das Wirtschaftsmagazin Business Punk. danielerk.de