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Steckt die Demokratie in der Krise?

Titelthema - Steckt die Demokratie in der Krise?
Alles andere als auf dem rechten Auge blind: Andreas Voßkuhle und das Bundesverfassungsgericht gelten als stark, unparteiisch und angesehen. © Kai Pfaffenbach/AFP/Getty Images

Unsere Demokratie steht in vielem besser da als je zuvor in unserer Geschichte, aber sie ist zugleich fragiler geworden.Über die Herausforderungen der Republik.

Wolfgang Merkel01.04.2020

Die Abgesänge auf die Demokratie schwellen an. In Wissenschaft und Publizistik mehren sich die Stimmen, die vom Niedergang, der Krise oder gar einem Kollaps der Demokratie künden. Dies nicht nur in Deutschland, sondern gerade in den USA, in Osteuropa, aber auch in Großbritannien, in Frankreich und dem europäischen Kontinent insgesamt. Was ist von diesen anschwellenden Krisengesängen eigentlich zu halten? Befindet sich unsere Demokratie im Niedergang? Genügen Pegida, AfD und die Verrohung politischer Diskurse, um von einer Krise zu sprechen? Parallelen zu den Krisenjahren der Weimarer Republik werden gezogen, die verstaubte Bonner Republik als Hort der Stabilität gepriesen.

Es stimmt: Das wiedervereinigte Deutschland ist innerlich zerrissen, die Tonlage der öffentlichen Debatten scharf geworden. Die sozialen Medien zeigen unverhohlen ihre unsoziale Fratze. Sie nähren die Demokratieverachtung und den Hass auf die politischen Eliten, die sie „die politische Klasse“ nennen. Also doch? Steckt die Demokratie heute in einer Krise, die ihre Existenz bedroht? Blenden wir zurück, nicht in die Zeit der Weimarer Republik, wie es zur Mode geworden ist, sondern nur ins Jahr 1990.

Deutschland wurde wiedervereinigt. Das war kein einfaches Unterfangen. Fehler wurden gemacht. Die westdeutschen Eliten kümmerten sich wenig um die Befindlichkeiten der ostdeutschen Bevölkerung, die ihrerseits die „Übernahme“ Ostdeutschlands als arrogante Landnahme des Westens empfand. Es grassierten Illusionen über Marktwirtschaft und Demokratie. Wirtschaftlich wurde Deutschland im folgenden Jahrzehnt zum „kranken Mann Europas“. Mit dem Beginn der wirtschaftlichen Erholung aber stieg das vereinte Deutschland zur wirtschaftlich und politisch führenden Macht innerhalb der Europäischen Union (EU) auf. Und dennoch: Die Demokratie in Deutschland wird gerade heute in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte als herausgefordert, fragil und krisenhaft beschrieben. Woher kommt das? Es lohnt sich, auf drei substanzielle Ebenen des demokratischen Systems zu schauen: die Wähler, die politischen Parteien und die zentralen Institutionen des politischen Systems.

Die Wähler

Die Wähler sind sprunghaft geworden. Sie wechseln schneller die Parteienpräferenz, als dies in der „formierten Gesellschaft“ der alten Bundesrepublik der Fall gewesen ist. Dies gilt für Ostdeutschland noch stärker als für Westdeutschland. Das erzeugt Instabilität, ist aber keineswegs nur negativ zu betrachten. Denn mittlerweile haben die Bürger auch ein größeres Angebot an Parteien. Sie können damit zielgenauer entlang ihrer Interessen und Werte wählen. Aber gleichzeitig bilden sich auch weitere gesellschaftliche Konfliktlinien heraus. Eine neue kulturelle Spaltung hat sich in unserer Gesellschaft manifestiert. Sie durchschneidet den klassischen Links-Rechts-Verteilungskonflikt und trennt nun weltoffene Kosmopoliten auf der einen und nationalistisch orientierte Kommunitaristen auf der anderen Seite. Erstere wollen die Grenzen öffnen, Letztere sie schließen. Dies gilt für Güter, Dienstleistungen und Kapital, aber auch für Menschen – Arbeitskräfte, Flüchtlinge und Asylsuchende. Der kulturelle Konflikt hat die öffentliche Debatte vergiftet.

Die Parteien

Der neue kulturelle Konflikt hat das Parteiensystem verändert. Es präsentiert sich fragmentiert, polarisiert und volatil. Die Rechtspopulisten treiben in Deutschland wie in ganz Europa die „Altparteien“ vor sich her. Die AfD hat sich seit 2015 von einer unbedeutenden erzkonservativen Anti-Europartei zu einer chauvinistisch-nationalistischen Formation gewandelt. Migration, Geflüchtete, Asyl, die europäische Integration und die „da oben“, die entrückten politischen Eliten – das sind die Themen, die Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten spülen.

Auf der anderen Seite stehen die Grünen, die sich als moralisch überlegene Kosmopoliten präsentieren. Sie wollen die Grenzen offen halten, die europäische Integration vorantreiben und den Klimawandel stoppen. Wer anders denkt, ist nicht nur politischer Gegner, sondern auch moralisch suspekt.

Blutspender für beide Parteien sind die einst stolzen Volksparteien CDU/CSU und SPD. Die große Zeit der Volksparteien ist vorbei. Die SPD ist keine mehr, die Union erfährt gerade ihren Abstieg. Die politischen Integrationsmaschinen der Nachkriegszeit integrieren nicht mehr, obwohl sie gerade jetzt in einer auseinanderfallenden Gesellschaft ge- braucht würden.

Weimarer Verhältnisse? Mitnichten. Die AfD ist nicht die NSDAP, die Linke nicht die demokratiefeindliche KPD. Die Grünen sind längst staatstragend geworden. Der Parteienwettbewerb ist nach wie vor auf die politische Mitte gerichtet. Im Zentrum des Parteiensystems drängeln sich die Parteien. Neben der Union, der SPD und der FDP sind längst auch die Grünen in die Mitte gerückt. Unsere Parteienlandschaft ist deshalb von einem polarisierten und fragmentierten Vielparteiensystem Weimarer Prägung weit entfernt. Der Drang der Parteien auf die Pole des Parteiensystems ist noch eng begrenzt. Auch die Zivilgesellschaft ist trotz Pegida weitestgehend demokratisch gesinnt. Nicht- regierungsorganisationen (NGOs) haben wichtige zivile Wächterfunktionen gegenüber Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Korruption und Menschenrechtsverletzungen übernommen.

Sorgen bereitet allerdings eine veränderte Öffentlichkeit, die insbesondere in der digitalen Sphäre in abgeschottete Echokammern zerfällt. Vor allem im rechten Spektrum gedeihen so Fremdenhass und Verschwörungstheorien. Das Klima von „post-truth“ breitet sich aus. Fakten werden verdreht, die Wahrheit relativiert, Falschnachrichten (fake news) verunsichern das Publikum. Mit der digitalen Öffentlichkeit droht ein Teil der demokratischen Infrastruktur zu zerfallen. Die repräsentativen Institutionen und Organisationen haben noch kein Rezept gefunden, um die digitalen Dunkelkammern der zwielichtigen Weltverschwörer zu beleuchten.

Die Verfassung

Der Parlamentarische Rat hat 1948 Lehren aus den semipräsidentiellen Verfassungsfallen der Weimarer Republik gezogen und für ein parlamentarisches Regierungssystem votiert. Das Grundgesetz hat sich schon in der Bonner Republik als ein klug gestalteter Glücksfall erwiesen. Vom liberalkonservativen Dolf Sternberger bis hin zum linken Jürgen Habermas wurde dies als das Heraufziehen eines Verfassungspatriotismus in Deutschland gedeutet. Auch wenn wir heute erleben, dass es bei beachtlichen Teilen der Bürger eine gefährliche Rückwendung zu einem völkischen Verständnis von Nation gibt, überwiegen bei uns doch die Vertreter eines westlichen Verständnisses der Staatsnation, die aus einer de- mokratischen Verfassung erwächst.

Die Justiz der Berliner Republik ist anders als jene der Weimarer Republik auf dem rechten Auge alles andere als blind, das Verfassungsgericht stark, unparteiisch und angesehen. Die politische Gewalt gegen das demokratische System ist trotz der mörderischen Umtriebe der NSU und seines Nachahmers von Hanau weit davon entfernt, die Grundlagen unserer Demokratie zu erschüttern. Dasselbe gilt für den islamistischen Terror. Die linke Gewalt, wie sie sich bei Gipfeltreffen der G 7 immer wieder äußert, ist kriminell, aber meist nicht gegen Personen gerichtet.

Berlin ist weder Weimar noch Bonn. Das wiedervereinigte Deutschland ist stabiler als zu Zeiten der Weimarer Republik – und es ist demokratischer, als es je ein Staat auf deutschem Boden war. Dies gilt auch im Vergleich zur alten Bundesrepublik, selbst für deren Reformphase von 1969 bis 1974. Die Demokratisierung der Demokratie hat sich in den letzten drei Jahrzehnten vor allem im Bereich des liberalen Rechtsstaats vollzogen. Die Geschlechtergerechtigkeit ist weiter entwickelt als zu Beginn der 1970er Jahre, Homosexualität wird nicht mehr mit dem Strafrecht verfolgt, Minderheitenrechte sind besser geschützt, Parteien intern demokratischer und die Repräsentanten in Regierung und Parlament besser kontrolliert denn je. Also alles gut?

Nein. Denn gerade diese liberale Demokratisierung der Demokratie steht heute unter Beschuss. Die Kanonen werden vor allem von den Rechtspopulisten geladen. Gerichtet sind sie gegen den libe- ralen Wertekanon und das kosmopolitische Establishment. Das Ziel ist die schlei- chende Transformation hin zu einer illiberalen Demokratie. Das Mehrheitsprinzip soll zur Demokratie schlechthin stilisiert werden. „The winner takes it all“ – Donald Trump, Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński machen es vor. Auf die Überfokussierung kleinster Minderheiten durch die kulturelle Linke folgt nun die rüde Verabsolutierung der Mehrheit durch die illiberale Rechte.

Allerdings setzt die wirtschaftliche und kommunikative Globalisierung die Berliner Republik einem kalten Wind aus. Die Offenheit von wirtschaftlichen, politischen und informationellen Grenzen hat eine neue Unsicherheit unter den weniger Begünstigten unserer Gesellschaft ausgelöst. Eine wachsende Anzahl von Menschen fühlt sich in ihren wirtschaftlichen Interessen und kulturellen Befindlichkeiten bedroht und nicht ausreichend repräsentiert. Dies ist der soziale Nährboden der Rechtspopulisten. Das Problem wurde von den politischen Eliten nicht hinreichend ernst genommen. Die AfD hat Zulauf bekommen. Mit simpler Ausgrenzung oder Beobachtung durch den Verfassungsschutz ist dieses Problem nicht zu lösen. Die demokratietragenden Parteien müssen diese Gruppen mit guten Argumenten und einer aufmerksameren Repräsentation wiedergewinnen.

Unsere Demokratie steckt in keiner Existenzkrise. Es müssen aber jene Probleme gelöst werden, die ihre grundlegenden Prinzipien der Freiheit und Gleichheit auszuhöhlen drohen. Für die zunehmende sozioökonomische Ungleichheit, die Globalisierung deregulierter Finanzmärkte, die digitale Privatisierung des Weltwissens, das Auseinanderfallen der Gesellschaft, Hassreden in digitalen wie analogen Debatten oder den Klimawandel müssen unverzüglich überzeugende Lösungen gefunden und durchgesetzt werden. Wir dürfen das demokratische Projekt einer weltoffenen Gesellschaft weder den neo- liberalen Staatsverächtern noch den selbstgerechten Moralisten überlassen. Schon gar nicht den populistischen Nationalisten, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Die Demokratie steht in vielem besser da als je in unserer Geschichte, aber sie ist zugleich fragiler geworden.

Wolfgang Merkel

Prof. Dr. Wolfgang Merkel ist Direktor em. am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professor em. für Politikwissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin. Er ist seit 2007 Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.