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Der Fall Verena Becker – ein Prozess gegen ein RAF-Mitglied mit Kontakt zum Verfassungsschutz

Kein Interesse an Aufklärung?

Michael Buback17.07.2012

In den 30 Jahren nach dem Attentat am 7. April 1977, dem Siegfried Buback, Wolfgang Göbel und Georg Wurster zum Opfer fielen, zweifelte meine Familie nie daran, dass bestmöglich aufgeklärt würde. Für uns waren die von den Ermittlern genannten Knut Folkerts, Christian Klar und Günter Sonnenberg die drei Täter. Zwei saßen auf dem Suzuki-Tatmotorrad und einer wartete außerhalb von Karlsruhe im Fluchtwagen. Im vollen Vertrauen hatten wir nicht gefragt, weshalb nur Folkerts und Klar „wegen Karlsruhe“ verurteilt wurden, nicht aber Sonnenberg, den alle Experten als Karlsruher Tatbeteiligten ansahen. Die Situation änderte sich, als das ehemalige RAF-Mitglied Peter-Jürgen Boock im April 2007 erklärte, weder Folkerts noch Klar hätten das Attentat mitverübt. Dies erschien uns zunächst kaum glaubhaft. Es zeigte sich dann aber, dass keiner der beiden Täter auf dem Motorrad für dieses Verbrechen angeklagt und verurteilt worden ist.

Wir lasen in alten Zeitungsausschnitten, dass Verena Becker und Sonnenberg am 3. Mai 1977 in Singen verhaftet wurden und sie die Karlsruher Tatwaffe bei sich hatten. Wir erfuhren noch, dass die beiden auch einen Suzuki-Schraubendreher mit sich führten, wie er als einziges Werkzeug im Bordset des Tatmotorrads fehlte und einzeln nicht zu beschaffen ist. Am 10. Mai 1977 befand der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs, dass Frau Becker in die Ausführung des Karlsruher Attentats als Mittäterin einbezogen war. Im Juni 1977 gab es weitere Hinweise auf Frau Beckers Mittäterschaft. Ein BKA-Gutachten stellte eine gute Übereinstimmung von Haarspuren an Verena Beckers Haarbürste, die im Rahmen ihrer Verhaftung gefunden wurde, mit ihren Kopfhaaren fest. Diese wenig überraschende Feststellung erhielt durch die in einem BKA-Dokument festgestellte Identität der Haarspuren in dieser Bürste mit der Haarspur in einem der von den Tätern zurückgelassenen Motorradhelme enorme Kraft. Eine Zeugin sagte im Juni 1977 aus, dass sie Verena Becker am Vortag des Karlsruher Anschlags beim Tatort gesehen hat. Es gab vor allem Zeugenhinweise, wonach eine Frau auf der Suzuki gesessen und geschossen hat. Auch war am Tattag beim Fundort des Tatmotorrads eine Fußspur der Größe 40 gesichert worden, die nicht zu den tatverdächtigen Männern passt, aber Verena Beckers Schuhgröße ist.

Die erdrückende Last dieser im Juni 1977 vorliegenden Hinweise auf Verena Beckers Mittäterschaft führte nicht zu einer Anklage. Am 22. Juni 1977 geschah etwas ganz anderes: Der Generalbundesanwalt trennte das Verfahren gegen Sonnenberg und Becker bezüglich der Straftaten bei ihrer Verhaftung in Singen von den Ermittlungen zum Karlsruher Attentat ab. Anklage wurde dann nur im Singener Verfahren erhoben. In Bezug auf die gegen Verena Becker gerichteten Ermittlungen geschah „wegen Karlsruhe“ nichts mehr außer einer merkwürdigen Nachbefragung zum Suzuki-Schraubendreher. Im März 1980 wurden die Ermittlungen eingestellt.

Kontakte zum Verfassungsschutz

Im April 2007 mussten meine Frau und ich eine für uns kaum fassbare Nachricht verkraften: Verena Becker hatte im Jahre 1981 Kontakt zum Bundesamt für Verfassungsschutz. Sie habe dort ausgesagt, Sonnenberg, Klar und Stefan Wisniewski seien die Karlsruher Täter gewesen. Die Spitze der von Kurt Rebmann geleiteten Bundesanwaltschaft habe diese Information 1982 erhalten. Uns schockierte, dass eine wegen versuchten Mordes an zwei Singener Polizisten verurteilte Terroristin, die zudem als eine Karlsruher Täterin bezeichnet worden war, mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet hat. Auch erhob sich die Frage, weshalb die Bundesanwaltschaft 1982 nicht gegen Wisniewski ermittelte, der von der Quelle des Verfassungsschutzes als Karlsruher Schütze benannt worden war.
Wir benötigten im April 2007 nur wenige Tage, um zu merken, dass Gravierendes nicht in Ordnung war. Sonnenberg und Becker waren nicht „wegen Karlsruhe“ angeklagt worden, obwohl sich gegen beide ein starker Verdacht richtete, dass sie wohl die beiden Personen auf der Suzuki gewesen waren. Die erneut gewonnenen Erkenntnisse führten nicht zur raschen Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen Frau Becker. Von Horst Herold, der 1977 BKA-Präsident war, erfuhr ich Anfang 2008, er sei über 30 Jahre davon ausgegangen, dass Verena Becker wegen ihrer Beteiligung am Karlsruher Attentat zu „lebenslänglich“ verurteilt worden ist. In der zuständigen Bundesanwaltschaft wurde aber betont, Frau Becker sei nicht unmittelbar am Attentat beteiligt gewesen. Es erstaunte uns dann, dass Verena Becker im Sommer 2009 verhaftet und im Frühjahr 2010 angeklagt wurde. Die Anklageschrift enthält ein Rätsel: Verena Becker wird angeklagt, gemeinschaftlich mit anderen am 7. April 1977 in Karlsruhe aus niedrigen Beweggründen und heimtückisch drei Menschen getötet zu haben. In derselben Anklage steht aber auch: „Der Anschlag wurde am 7. April 1977 von drei männlichen Mitgliedern des ,Kommando Ulrike Meinhof‘ der Roten Armee Fraktion gemäß dem gemeinsam erarbeiteten und beschlossenen Tatplan verübt.“

Eine „schützende Hand“?

Wenn die Täter Männer waren, kann Frau Becker die Tat nicht begangen haben. Die willkürlich erscheinende Festlegung auf drei Männer führte zu einer Schieflage des gesamten Verfahrens und hatte zur Folge, dass die Anklage die Zeugen, die in der Hauptverhandlung von einer Frau auf dem Tatmotorrad berichteten, scharf befragte und als nicht glaubhaft oder gar als Lügner bezeichnete. Das sind über 20 Zeugen, die ich in meinem Plädoyer, das bei 3sat.kulturzeit.blog nachgelesen werden kann, einzeln aufführe. Unter ihnen haben die Zeugen, die das Attentat unmittelbar und unabhängig voneinander beobachteten, besonderes Gewicht. Sie erklärten, dass vom Soziussitz der Suzuki eine zierliche Frau geschossen habe. Es gibt inzwischen keinen belastbaren Zeugen mehr, der zwei Männer als Tatausführende gesehen hat.

Da die vielen Augenzeugen als unglaubwürdig bezeichnet wurden, die geladenen ehemaligen RAF-Mitglieder ein Zeugnisverweigerungsrecht beanspruchten, die Verfassungsschützer mit enger Aussagegenehmigung erschienen und die von der Nebenklage beantragten Ladungen der Bundesanwälte, die im April 1977 bereits an der Behörde arbeiteten und mit dem Buback-Fall befasst waren, vom Senat ausnahmslos abgelehnt wurden, erstaunt es nicht, dass bei denen, die nur selten zur Verhandlung gekommen sind, der Eindruck entstehen konnte, der Prozess habe keine Erkenntnisse gebracht. Er war übrigens nicht nutzlos, wie manche meinen, zumindest nicht für Frau Becker.

Hierzu muss man wissen: Die Einstellung der Ermittlungen zum Karlsruher Attentat erfolgte 1980 gegen Frau Becker gemäß § 170 Abs. 2 StPO, womit sie als unschuldig galt. Dem Vorteil des „Unschuldigseins“ steht entgegen, dass bei Auftauchen belastender Hinweise das Verfahren wieder aufgenommen werden kann, wie jetzt geschehen. Erst nach einem rechtskräftigen Urteil zum Karlsruher Attentat kann sich Frau Becker vor Strafverfolgung zum Karlsruher Attentat geschützt fühlen, da sie nicht ein zweites Mal in derselben Sache angeklagt werden darf. Wer es gut mit Frau Becker meint, wird ein Urteil mit geringfügiger Strafe anstreben, die möglichst keine neue Haft bedeutet. Allerdings ist ein Freispruch unwahrscheinlich, da er ein ungünstiges Licht auf die Anklagebehörde werfen würde. Das von uns erwartete Urteil ist ergangen. Ein bitteres Ergebnis ist, dass der Senat trotz seiner Aufklärungspflicht nicht in der Lage war, das Karlsruher Verbrechen zu klären, obwohl dies nicht besonders schwierig erscheint. Mehrere Passagen im Urteil sind nicht nachvollziehbar. So verwundert, dass die Angeklagte nach Überzeugung des Senats die späteren Täter zum Mord angestachelt hat, andererseits im Urteil festgestellt wird, die Täter seien gar nicht bekannt. Auch ist zu fragen, weshalb Bundesanwaltschaft und Senat, die Peter-Jürgen Boock inzwischen als glaubhaft einstufen, nicht berücksichtigen, was er über die Karlsruher Täter sagte. Diese seien definitiv im Nahen Osten militärisch ausgebildet worden und aus dieser Gruppe hätten nur Sonnenberg und Becker gut Motorrad fahren können. Diese Fähigkeit aber mussten beide Karlsruher Täter besitzen.

Wenn die Täter, wie der Senat ausführt, nicht bekannt sind, steht die Bundesanwaltschaft wieder bei null. Da Mord nicht verjährt, liegt ein schwerer Weg vor der Behörde, denn 1994 wurden alle beim BKA gelagerten Spurenakten zum Buback-Komplex vernichtet. Auch ist zu fragen, was so viel wichtiger ist als die Aufklärung des Attentats, dass Dokumente, sogar eine Passage im Gnadenheft von Verena Becker, noch 35 Jahre nach der Tat geheim gehalten werden. Trotz der erdrückenden Hinweise auf eine Beteiligung von Verena Becker am Karlsruher Attentat habe ich keine Strafe für sie gefordert. Es hat zahlreiche Eingriffe in die damaligen Ermittlungen gegeben, die sich jeweils zugunsten der Angeklagten auswirkten. Sie sind nur erklärbar durch eine „schützende Hand“. Verena Becker räumt in ihren Aufzeichnungen ein, es sei eine „schmutzige Geschichte“ gewesen. Ihr Zusammenwirken mit dem Verfassungsschutz erscheint gesichert. Allerdings verhinderten zu viele Barrieren Erkenntnisse über diese Zusammenarbeit, die in der Regel Geben und Nehmen einschließt. Es kann nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden, dass Frau Becker zu Handlungen gedrängt worden ist.

Als ich mich entschied, keine Strafe für Verena Becker zu beantragen, war mir noch nicht bekannt, was der 65-jährige Professor Siegfried Mundlos laut Focus (28/2012) zum möglichen Einfluss des Verfassungsschutzes auf die Entwicklung seines Sohnes und von dessen Freunden zu einer „radikalen Mörderbande“ geäußert hat. Ähnlich wie beim Verfahren gegen Verena Becker wurden auch in Verbindung mit den NSU-Verbrechen Akten vernichtet und Ermittlungen verliefen zögerlich.

Meine Frau und ich sind froh, den Stuttgarter Prozess nun nicht mehr ertragen zu müssen. Es gab enormen Druck und viele Angriffe auf uns. Oft standen wir sehr allein. Angesichts des bedrückenden Unvermögens der Justiz, das Karlsruher Attentat und weitere der RAF zugerechnete Morde aufzuklären, erstaunt es, mit welcher Überheblichkeit sich Juristen gegenüber denen äußern, die sich sorgfältig mit den kriminalistischen Aspekten des Karlsruher Attentats befasst haben. Auch überrascht es, dass man überhaupt Angehörige eines Opfers terroristischer Gewalt derart attackiert.

Michael Buback
Professor Dr. Michael Buback ist der Sohn des 1977 von der RAF ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback. 2009 erschien die Neuausgabe seines Buches „Der zweite Tod meines Vaters“ (Droemer/Knaur).