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Titelthema

Fragen von Sein oder Nicht-Sein

Titelthema - Fragen von Sein oder Nicht-Sein
Voller Stolz erleben junge Kosaken in der ostukrainischen Stadt Tores im Jahr 2016 ihre Vereidigung. © Florian Bachmeier

Die Nato-Partner müssen sich fragen, ob sie nicht selbst dazu beigetragen haben, den Gegner ins Leben zu rufen, den sie jetzt zu fürchten haben.

Michael Stürmer01.02.2022

When empires fall, they do so with a bang, and not with a whimper.“ Der Niedergang und der Fall des Sowjetimperiums ist das jüngste Vorkommnis in dieser Klasse. Aber Russland war bei Zerstörung und Selbstzerstörung des Sowjetimperiums so gnädig, der näheren und weiteren Nachbarschaft den großen Schlag zu ersparen. Im Gegenteil: Das neue Russland suchte so etwas wie Mitgliedschaft im westlichen Club, wirtschaftlich und finanziell – und sogar in den wichtigsten militärischen Bereichen.


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Davon indessen ist heute nicht mehr viel zu finden, obwohl es doch lebenswichtig für das zivilisierte Zusammenleben der Völker wäre. Nichts ist wichtiger als die Zähmung des Nuklearen in dem System von „Abschreckung und Entspannung“. Aus den sehr realen Gefahren wechselseitiger Zerstörung im System der „mutual assured destruction“ waren 1962 in Berlin und in den Gewässern rund um Kuba die Weltmächte dem katastrophalen Scheitern sehr nahegekommen: Armageddon, Weltenende und Weltenwende.

Es brauchte beides, Angst und Vernunft, aber auch Toleranz und Kreativität, um daraus jenes System wechselseitiger Kooperation zu entwickeln, das bis zum Ende des Kalten Krieges vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen beider Seiten und miteinander ermöglichte. Es war gerade die Furchtbarkeit des Ernstfalls, die ihn verhinderte und am Ende des Kalten Krieges sogar in ein neues Weltsystem überführen sollte.

Die Europäer ließen es geschehen

Abschreckung als System hatte funktioniert. „What if deterrence fails?“ Was, wenn die Abschreckung versagt? Die furchtbare Frage schien so obsolet wie das ganze antagonistische System des Kalten Krieges. So jedenfalls dachten die Diplomaten und Militärs, die in Monaten und Jahren gelernt hatten, die Gegenseite einzuschätzen, kooperative Methoden und Mittel zu kultivieren und über den Status quo hinauszudenken. Das Undenkbare wurde denkbar: In Russland mit Gorbatschow, in der westlichen Hemisphäre mit George Bush I, als dieser nach dem 100-Stunden-Krieg am Golf die „neue Weltordnung“ verkündete – unter Führung der USA und unterstützt von den bekehrten Sowjets. Selbst ernsthafte Leute begannen vom „end of history“ („Ende der Geschichte“) zu schwärmen und ein neues Zeitalter auszurufen, in dem die Lämmer bei den Löwen grasen würden. In den industriellen Demokratien Europas wurde die „Friedensdividende“ wieder und wieder verteilt – und den Menschen ein Wohlgefallen.

Doch alte Dämonen stiegen auf aus flachen Gräbern. Der Nato-Russland-Rat wurde 1997 eingerichtet für Konsultation, Vertrauensbildung und Zusammenarbeit gegen Tod und Teufel. Allerdings war die Stabilität, die der Rat schaffen sollte, sehr bald das Opfer jener Krisen, welche er verhindern sollte. Zur Schlüsselfrage allerdings wurde bald die Entscheidung darüber, ob das künftige Russland in der künftigen Nato einen kooperativen Wirkungsraum finden würde. Das stieß an die Grenzen praktischer Kooperation und des Vertrauens und noch mehr auf die Interessen der dem Sowjetsystem entkommenen mittel- und osteuropäischen Staaten, die neue Freiheit der „Pax Americana“ nicht mehr zu verlieren. Alte und älteste Fragen europäischer Machtpolitik traten wie aus dem Nichts wieder in Erscheinung und fanden keine Lösung. Die Vereinigten Staaten wurden Anwalt der polnischen Antwort auf der Suche nach Stabilität à la Pologne. Die Europäer ließen geschehen, was das Weltmachtverhältnis fatal belasten musste.

So wurde die Saat gesät für jene Entfremdung, die heute ungeachtet aller Ordnungsstrukturen zwischen Russland und dem Westen Türen knallen lässt, die bis dahin den Dialog auch in schwierigsten Zeiten ermöglicht hatten.

Jene Sicherungssysteme für Krisenmanagement, die in besseren Zeiten Kooperation oder Entspannung gefördert hatten, werden zunehmend ersetzt durch Klischees. Deutschland hat zwar starke Interessen geltend zu machen, aber es fehlt das Gewicht, um den Supermachtdialog zu retten oder, wo er zerstört ist, wieder einzurichten. Es ist aber und bleibt das oberste nationale Interesse – Hans-Dietrich Genscher würde zustimmen –, die Drähte wieder spielen zu lassen. Die gegenwärtige Krisendiplomatie, oder was man dafür hält, ist gefährlich einfallslos. Ohne tiefere Bemühung, darin eingeschlossen unkonventionelle Hintergrunddiplomatie, wird man allerdings nicht weit kommen. Der Preis des Taktierens, der routinemäßigen Erledigung nach Aktenlage und der Unkenntnis der „forces profondes“ („tiefen Kräfte“) wäre hoch, unerträglich hoch.

Ein System mit drei Weltmächten?

Russland hat im 20. Jahrhundert ein Imperium verloren, aber seitdem noch keine neue Rolle in der Welt gefunden. Die Dauerkrise Russlands findet aktuell im Ostseeraum ein gefährliches Spielfeld, und die Unbestimmtheit des westlichen Krisenmanagements ist darauf nur eine unzureichende Antwort. Es geht dabei nicht um ein Bündel westlicher Sanktionen, von Zeit zu Zeit routiniert bestätigt und insgesamt als Steuerungsinstrument wenig wirkungsvoll. Gestern, heute und morgen testet der Kreml auf seine eigene robuste Weise, wie tragfähig das westliche Bündnis ist, wie weit Amerikas transatlantische Garantien noch tragen und wie die machtpolitische Ménage-à-trois mit China zu neuen Machtgleichgewichten in der Welt führt. Ein System mit drei Weltmächten in einer Machtbalance zu halten, ist theoretisch wahrscheinlich möglich, praktisch aber wohl nicht. Selbst Altmeister Henry Kissinger hat dafür noch keine dauerhafte Formel gefunden. Immer und so auch brandaktuell stellt sich die Frage der Hegemonie im Ganzen und in Teilen. Das Ringen, wem die Ukraine zuneigen soll, wem Georgien und wem das Schwarze Meer gehört, ist eine neue Variation über ein altes Thema.

Das Kräftemessen zwischen Schwarzem Meer und Ostseeraum bis zum Europäischen Nordmeer ist für Russland nicht Auftakt zum letzten Gefecht, aber deutlich mehr als ein doppeldeutiges, exzessives Militärmanöver am Rande des Ernstfalls. Es beschwört immer mehr die sehr reale Gefahr herauf, dass das Krisenmanagement entgleist und der große Knall doch noch folgen könnte. Das heißt, die Krisenmanager könnten sich unversehens in der Rolle der Schlafwandler finden, diesmal nicht anno 1914, sondern 2022.

Die Gefahr des Systemzusammenbruchs wird längst nicht mehr aufgefangen durch die Rahmenhandlung strategischer Stabilität mit der Sowjetunion und den USA als Gegenpolen. Selbst Krieg nach den Rezepten der Hybrid-Strategen ist nicht mehr undenkbar. Ob das System der wechselseitigen Abschreckung, wie es den Kalten Krieg begleitete und absicherte, technisch und politisch noch funktioniert: Man möchte es nicht in der Prüfung sehen. Das alte, vieldimensionale System Vertrauens- und Sicherheitsbildender Maßnahmen (VSBM) besteht nur noch auf dem Papier. Vertrauliche und lange Zeit verlässliche Kommunikationsdrähte wie der Nato-Russland-Rat sind gekappt, Leichtsinn oder Unkenntnis sind am Werk. Rote Linien, Ultimaten und tickende Bomben haben eine fatale Tendenz, sich selbstständig zu machen und jene, die gestern noch Meister des großen Spiels waren, heute zu verlorenen Schachfiguren zu machen.

Der Westen hatte sich übernommen

Man stellt es mit Erstaunen fest: Der Kalte Krieg war besser als sein Ruf. Er umfasste nicht nur den scharfen Antagonismus der Weltmächte, sondern auch deren Entschlossenheit, minderen Mächten den Zugang zum Nuklearen zu versperren – das Instrument war der Nonproliferationsvertrag von 1968.

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Kiew, Livoberezhna, 2019: In den 60er und 70er Jahren entstand diese Hochhaussiedlung © Florian Bachmeier

Die Umkehrung lange gewohnter Kollaboration in Kriegs- und Verhandlungslisten könnte sich über Nacht ins Gegenteil dessen verwandeln, was sie eigentlich bewirken sollten: Abstand halten zum großen Gegenspieler, Reste an Vertrauen aufrechterhalten und der Logik der Selbsterhaltung immer noch eine Chance zu lassen. Ob die Technik noch immer mitspielt, ist auch nicht mehr sicher. Warnzeiten werden immer mehr verkürzt, die Automatik taktischer Antworten auf strategische Bedrohungen übersteuert alle Bedenken. Unversehens können aus Treibern Getriebene werden.

Russland hat das verlorene Imperium nicht vergessen und die Neuordnung des östlichen Europas nicht vergeben. Man kann schwerlich sagen, dieser schmerzhafte Prozess sei seit 30 Jahren von den Vereinigten Staaten und ihren Bündnispartnern mit dem gebotenen Höchstmaß psychologischer und strategischer Staatskunst, mit Vorsicht und Finesse vollzogen worden. Der Kreml in Moskau und das Weiße Haus in Washington haben in dieser Zeit kein Meisterstück in neuer, kooperativer strategischer Stabilität geliefert.

Das Gegenteil war der Fall, als die Nato-Häupter vor 14 Jahren in Bukarest zur nächsten Stufe der Osterweiterung zusammenkamen. Die neue Nato sah in russischen Augen der alten Nato verteufelt ähnlich. Der Gipfel war auf Nato-Seite unübersehbar flüchtig vorbereitet, dafür aber mit der erklärten Absicht, die Ukraine und Georgien aus dem noch immer ungeordneten Nachlass der Sowjetunion einzufügen in das strategische Gesamtkonzept des Westens, das sich doch bei näherer Betrachtung als improvisiert, geschichtslos und hochgefährlich erwies.

Noch während der Nato-Gipfel 2008 sich dem längst vorbereiteten Skript näherte, lernten die westlichen Verhandlungsführer, dass sie sich übernommen hatten. Wladimir Putin und Dmitri Medwedew, der eine in Sotschi, der andere in Moskau, hatten in vorbereiteten Zornesausbrüchen ungefähr Folgendes gesagt: „Genug ist genug, und wenn das nicht begriffen wird, so ist die Antwort Krieg.“ Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy bedienten daraufhin die Notbremse und erreichten, dass aus dem MAP (Membership Action Plan) damals nichts wurde und – noch bevor der Gipfel geendet hatte – das große Projekt einer noch größeren Nato erst einmal auf Wiedervorlage gelegt wurde.

Der Westen wollte den Osten nie verstehen

Was blieb, war ein aufschiebender Formelkompromiss, der niemanden zufriedenstellte, nicht in Washington und nicht in Moskau, nicht die Anrainer der Ostsee und des Schwarzen Meeres. In Wahrheit hatte ein neuer strategischer Dialog der unfreundlichen Art begonnen. Daher heute, nach 14 Jahren Schwebezustand, der Rekurs, so als ob inzwischen nicht viel passiert wäre. Damals war indessen eine neue Schachpartie eröffnet worden, die alles infrage stellt, was noch aus den besseren Zeiten der Ost-West-Lage geblieben war und weiterwirkte.

Es ist die Zeit wert, die Gipfeldeklaration von Bukarest noch einmal mit der Lupe zu lesen. „Die Nato begrüßt die Aspirationen der Ukraine und Georgiens hinsichtlich Mitgliedschaft in der Nato.“ – „Wir stimmen überein, dass diese Staaten Mitglieder der Nato werden.“ – „Der Membership Action Plan (MAP) ist der nächste Schritt für Ukraine und Georgien auf ihrem direkten Weg zur Mitgliedschaft.“

Was für Russland eine Frage von Sein oder Nicht-Sein war, war für die westliche Staatenwelt eine fast beiläufige Entscheidung. Ihr Gewicht indessen ergab sich für russische Strategen aus Geschichte, Geografie und alten Ängsten. Die Nato-Versprechen reichten damals aus, Russland zu verlieren. Und so kam es, wie es nach der Neuaufstellung der Schachfiguren kommen musste. Putin tat, was er konnte, um Russlands Streitkräfte zu ertüchtigen und für die Hybrid-Kriegführung von heute aufzurüsten. In der gegenwärtigen Nato-Russland-Krise müssen sich die Nato-Partner fragen, ob sie nicht selbst dazu beigetragen haben, den Gegner ins Leben zu rufen, den sie jetzt zu fürchten haben.


Ausstellung

Die Galerie Buchkunst Berlin veranstaltet mit Unterstützung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. die virtuelle Ausstellung IN LIMBO Ukraine 2013–2021 mit den Fotografien von Florian Bachmeier vom 6. Februar bis zum 31. März unter buchkunst-berlin.de


Buchtipp

 

Florian Bachmeier

In Limbo

Buchkunst Berlin, 2021,

180 Seiten, 111 Abb.,

40 Euro

Michael Stürmer
Prof. Dr. Michael Stürmer ist seit 1998 Chefkorrespondent der Welt und Welt am Sonntag. Von 1988 bis 1998 war er Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, von 1980 bis 1986 außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Kohl.
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