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Titelthema

Ein System in der Glaubwürdigkeitskrise

Titelthema - Ein System in der Glaubwürdigkeitskrise
Überlastete Justiz: Im Jahr 2017 wurden bundesweit in mindestens 51 Fällen Haftbefehle gegen dringend Tatverdächtige aufgehoben, weil deren Strafverfahren zu lange dauerten. © dpa Picture-Alliance / Stephanie Pilick

Das Vertrauen der Bürger in die Justiz sinkt. Zudem stellt die Exekutive – auffälliger als früher – Entscheidungen der Rechtsprechung in Frage. Wackelt die „dritte Staatsgewalt“ und damit eine entscheidende Säule unseres Gemeinwesens?

Jens Gnisa01.11.2018

Kriminalität und Sicherheit sind in das Zentrum der gesellschaftlichen Debatte gerückt. Terroranschläge und andere Übergriffe haben ebenso ihre Spuren hinterlassen wie die Alltagskriminalität: Wohnungseinbrüche, Gewaltkriminalität, Stalking im Internet. 31 Prozent der Bürger machten sich etwa bei einer Umfrage im August 2017 große Sorgen, Opfer einer Gewalttat zu werden. Das Gefühl, nicht ausreichend geschützt zu werden, wirkt sich mittlerweile direkt im Leben der Bürger aus. 43 Prozent kennen in ihrer unmittelbaren Nähe Gebiete, durch die sie nachts nicht alleine gehen. Dabei glauben die Bürger fest daran, dass die Probleme größer werden. 78 Prozent meinen, es gebe heute mehr Gewalttaten als früher und diese seien auch brutaler geworden. Zentrale Aufgabe eines Staates ist es aber, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen. Einem Staat, dem dies nach der Einschätzung seiner Bürger nicht überzeugend gelingt, dem droht eine Vertrauenskrise.

Kritik aus der Gesellschaft
Neben den Sicherheitsorganen selbst ist auch die Justiz gefordert. Diese muss sich immer häufiger Kritik aus der Gesellschaft stellen. Die Vorwürfe lauten, Richter seien zu lasch gewesen, oder wieder einmal habe ein Richter einen von der Polizei gefassten Täter laufen lassen. Dass der Strafbereich in das Zentrum der gesellschaftlichen Debatte geraten ist, ist zugleich jedoch eine große Chance. Denn Aufmerksamkeit ist die erste Voraussetzung für Änderungen. Die Justiz muss nun auf den Bürger zugehen, seine Sorgen ernst nehmen, aber auch da, wo Probleme bestehen, den Finger in die Wunde legen.
Für Fachleute ist das zurückweichende Sicherheitsgefühl der Bürger allerdings paradox. Denn statistisch gesehen geht die Kriminalität zurück. Auch die Zahlen zur Gewaltkriminalität sind derzeit rückläufig. Doch solchen Statistiken vertrauen viele Bürger nicht, verweisen auf gegenteilige eigene Erfahrungen mit Kriminalität oder auf eine scheinbar sinkende Anzeigebereitschaft und damit ein erhöhtes Dunkelfeld. Die Vertrauenskrise geht also so weit, dass die Erkenntnisse der Kriminologen für unglaubwürdige Beschwichtigungsversuche gehalten werden. Damit droht der Gesprächsfaden zwischen Bürgern und Fachleuten zu reißen.
Doch es geht nicht nur um die Sicherheit. Auch die zweite zentrale Säule unseres Rechtssystems droht Schaden zu nehmen: die Herstellung von Gerechtigkeit. Thesen wie: „Die Kleinen fängt man, die Großen lässt man laufen“ oder „Nicht der gewinnt vor einem deutschen Gericht, der im Recht ist, sondern der den besseren Rechtsanwalt hat“ finden mehrheitliche Zustimmung. Dies muss jeden Juristen nachdenklich stimmen.

Anlass zur Selbstkritik
In dieser Situation ist es angebracht, zunächst Selbstkritik zu üben. Erosionserscheinungen lassen sich nämlich durchaus auch in den Justizstatistiken ausmachen. Ich möchte beispielhaft nur drei Punkte nennen:
Die Oberlandesgerichte haben Recherchen der Deutschen Richterzeitung (DRiZ) zufolge im Jahr 2017 bundesweit in mindestens 51 Fällen Haftbefehle gegen dringend Tatverdächtige aufgehoben, weil deren Strafverfahren zu lange dauerten. 51 Fälle scheinen in Anbetracht der Gesamtzahlen nicht besorgniserregend. Doch die Hürden für die Anordnung von Untersuchungshaft sind hoch, und vor allem ist die Zahl im Vergleich zu den Vorjahren signifikant gestiegen. Jeder Einzelfall verunsichert die Bürger in ihrem Sicherheitsempfinden.
Ein ähnliches Phänomen gibt es bei Abschlägen auf die Strafe. Nach unserem Recht sind überlange Verfahrensdauern durch einen solchen Abschlag auf die Strafe auszugleichen. Denn immerhin hatte der Angeklagte durch das lange Verfahren persönliche Nachteile. Das Urteil lautet dann also beispielsweise nicht auf 3 Jahre 6 Monate, sondern nur 3 Jahre. Nach einer Erhebung der Oberlandesgerichte muss ein solcher Rabatt immerhin in rund 30 Prozent aller Wirtschaftsstrafverfahren gewährt werden. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen derjenigen, die glauben, Wirtschaftsbosse würden von der Justiz nicht hart genug bestraft.
Die dritte Zahl betrifft die Staatsanwaltschaften. Bei uns gilt dem Grunde nach im Strafrecht das sogenannte Legalitätsprinzip: Alle Straftaten sind vom Staat zu verfolgen. Trotzdem steigt die Zahl der Verfahrenseinstellungen nach Ermessensgesichtspunkten kontinuierlich an. Von 25 Prozent der Verfahren vor noch zehn Jahren auf mittlerweile mehr als ein Drittel. Die Straftaten werden dann also gerade nicht angeklagt. Der Ärger vieler Bürger, Ordnungswidrigkeiten insbesondere aus dem Verkehrsbereich würden stringenter verfolgt als so manche Straftat, ist also nicht einmal so ganz falsch.
Dabei kann unser Staat auch zeigen, dass es anders geht. Weniger Wohnungseinbrüche belegen beispielsweise, was sich durch eine richtige Reaktion des Staates und durch eine Bündelung von Ressourcen erreichen lässt. Die Konzentration in diesem Bereich darf aber nicht dazu führen, dass sich an anderer Stelle Lücken auftun. Kriminalitätsbekämpfung muss gerade lückenlos und konsequent sein, um das Vertrauen der Bürger nicht zu verlieren. Die Strafe muss auf dem Fuße folgen. Die Strafprozesse müssen schneller zu Ende gebracht und effektiver werden.
Doch das ist nicht einfach. Die Ursachen für zu lange Verfahren sind vielschichtig. Eine Rolle spielt sicher, dass Strafverfahren aufwendiger geworden sind. Häufig richten sich Ermittlungen gegen international verzweigte Tätergruppen. Zudem haben sich die auszuwertenden Datenmengen vervielfacht. In umfangreichen Strafsachen fallen nicht selten hunderte Stehordner und mehrere Terrabyte Daten an. Die Arbeitsbelastung für Staatsanwälte und Strafrichter ist inzwischen enorm hoch. Vor allem die Staatsanwaltschaften werden zusehends zum Nadelöhr bei der Strafverfolgung. Die Lage droht sich noch zu verschärfen, weil bis 2030 bundesweit mehr als 10.000 Staatsjuristen in Pension gehen und ersetzt werden müssen.

Vernachlässigung durch den Staat
Eine zentrale Ursache der Problematik liegt darin, dass der Staat sich vorwerfen lassen muss, die Justiz viele Jahre vernachlässigt zu haben. Stellen sind abgebaut worden, und die dritte Staatsgewalt weist in den Landeshaushalten lediglich einen Anteil zwischen 1,5 und 4,5 Prozent aus. Das ist erkennbar zu wenig. Deshalb ist es wichtig, den im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vereinbarten Bund-Länder-Pakt für den Rechtsstaat mit 2000 neuen Stellen für Staatsanwälte und Richter jetzt zügig umzusetzen.

Mangelnder Respekt
Dabei ist klar, dass sich die Probleme allein mit mehr Personal nicht in den Griff bekommen lassen. Es braucht einen Dreiklang aus mehr Personal, einem effizienteren Prozessrecht und moderner Technik. Die Strafprozessordnung gehört reformiert. Beispielsweise werden zu viele Beweis- und Befangenheitsanträge gestellt, um das Verfahren zu verzögern. Hier müssen den Richtern bessere Mittel an die Hand gegeben werden, um für den zügigen Ablauf des Verfahrens sorgen zu können. Hier ist das Ausland – etwa Norwegen – durchaus Vorbild.
Neben der Arbeitsfähigkeit der Justiz gehört auch ihr Ansehen gestärkt. Der Rechtsordnung wird eine tragende Säule entzogen, wenn etwa Behörden Gerichtsentscheidungen nicht respektieren. Beispielsweise hat der Fall Wetzlar, in dem sich die Stadt kürzlich einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus politischem Kalkül widersetzt hatte, das Vertrauen in den Rechtsstaat empfindlich gestört. Anfang des Jahres wurde der Freistaat Bayern zu einem Zwangsgeld verurteilt, weil er eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung nicht umsetzte. Dies sind bisher Einzelfälle – sie dürfen sich jedoch nicht wiederholen. Sowohl die Gesetzesbindung der Verwaltung als auch die Gewaltenteilung sind tragende Grundprinzipien der rechtsstaatlichen Grundordnung, die auf keinen Fall – und seien die Zwecke politisch auch noch so verständlich – missachtet werden dürfen, um das Vertrauen in das Funktionieren des Rechtsstaates nicht zu beschädigen. Auch international muss Deutschland Vorbild sein.
Vielleicht ist es aber auch ein zu negatives Bild, das hier im Herbst 2018 gezeichnet wird. Das gilt für den oft an die Justiz gerichteten Vorwurf, ihre Entscheidungen seien zu milde, gar von einer „Verständniskultur für Straftäter“ geprägt und nicht selten uneinheitlich. Zunächst sollten wir das, was gut ist, bewahren. Unser liberaler Rechtsstaat hat nämlich bei der Kriminalitätsbekämpfung durchaus Erfolg. Vergleiche mit Staaten, in denen viel härter bestraft wird – etwa den USA – machen deutlich, dass die Gleichung „Höhere Strafen gleich weniger Kriminalität“ nicht aufgeht. Es ist wichtig, weiterhin bei der Kriminalitätsvermeidung auch auf einen starken Sozialstaat zu setzen. Richtig ist, dass nach aktuellen Untersuchungen in Deutschland teils unterschiedlich gestraft wird. Doch ist das wirklich von Nachteil? Immerhin hat der Gesetzgeber die Justiz bewusst regional aufgestellt, um Besonderheiten beachten zu können. Doch auch hier gibt es Bewegung. So hat der Deutsche Juristentag kürzlich beschlossen, dass Datensysteme aufgebaut werden sollen, damit Richter und Staatsanwälte künftig die Strafzumessungen besser miteinander vergleichen können – eine längst überfällige Idee.

Kritik ernst nehmen
Richtig bleibt, dass es immer wieder teils massive Kritik an einzelnen Entscheidungen gibt. Hier müssen noch mehr als in der Vergangenheit Hintergründe erläutert werden. Eine rechtsstaatliche Justiz darf ihre Urteile allerdings niemals an der Erwartungshaltung der Bevölkerung ausrichten. Sehr wohl muss sie aber den Versuch unternehmen, ihre Entscheidungen auch für den Bürger verständlich zu machen. Auf Kritik sollte sie nicht dünnhäutig reagieren, sondern sie ernst nehmen.
Noch ist die Ausgangsbasis gut: die Justiz verfügt im Vergleich zu anderen staatlichen Institutionen über hohe Zustimmungswerte. Studien belegen, dass es in der deutschen Justiz hohe Qualitätsmaßstäbe gibt. Es läuft also vieles gut. Aber es ist nun an der Zeit, die Probleme ernst zu nehmen, damit wir auch noch in Zukunft ein überzeugendes Recht als Basis unseres Staatswesens haben. Eins steht für mich aber auch fest: Bestehende Gesetze müssen konsequenter als in der Vergangenheit umgesetzt werden.

Jens  Gnisa
Jens Gnisa ist seit 2012 Direktor des Amtsgerichts Bielefeld und seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Richterbunds (DRB). 2017 erschien „Das Ende der Gerechtigkeit. Ein Richter schlägt Alarm“ (Herder). www.drb.de