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Dicke Euter

Titelthema - Dicke Euter
Immer billiger: Im Milchkarussell werden Dutzende Kühe gleichzeitig gemolken. © Plainpicture / Larissa Veronesi, Julia-Sellmann

Billignahrung ernährt unsere Wohlstandsgesellschaft – mit verheerenden Folgen diesseits und jenseits unserer Grenzen. Höchste Zeit zum Umdenken.

Andreas Pichler01.06.2020

Während der Corona-Krise gab es vielerorts Engpässe bei der Hefe, weil zahlreiche Menschen zu Hause selber Brot backen wollten. Das sind positive Anzeichen für ein neues Bewusstsein in der Ernährung, denn viele haben in der Krise gutes, selbst gemachtes Essen wiederentdeckt, weil man auf einmal Zeit hatte. Und für gutes Essen braucht es Zeit, sei es beim Kochen, Einkaufen oder beim Verzehren. Schon allein einen regionalen Händler zu suchen oder auf einen lokalen Markt zu gehen, kostet mehr Zeit als in dem Discounter um die Ecke schnell eine Fertigpizza zu kaufen, keine Frage. Aber es steckt noch mehr dahinter. Es ist auch eine Frage der Wertigkeit – und der Politik.

Einerseits ist Essen das Alltäglichste der Welt und andererseits ist jeder Bissen, den wir verzehren, ein politisches Statement, ob wir wollen oder nicht. Jeder weiß, dass in unserer globalisierten Welt fast alles mit allem zusammenhängt, aber besonders beim Essen verleiben wir uns die Früchte unserer natürlichen Umwelt ein und beeinflussen unsere Umgebung durch unsere Ernährung nachhaltig.

Früher war der Kreislauf der Nahrung bei den Bauern ganz natürlich: Der Boden vom Hof ernährte die Bauersleute mal besser, mal schlechter, je nach Jahr und je nachdem, wie der Boden behandelt wurde.

Der Kreis, aus dem wir heute unsere Lebensmittel beziehen, hat sich in den letzten Jahrzehnten explosionsartig erweitert. Die europäische Nahrungsmittelproduktion ist global eingebettet und rund 50 Prozent der Lebensmittel, die in Deutschland und in Österreich verzehrt werden, stammen nicht von dort. Es ist einfach viel günstiger, Äpfel aus Neuseeland, Avocados aus Kalifornien oder Tomaten aus Holland liefern zu lassen als auf heimische Produkte zu setzen.

Afrikanische Bauern in Not

Damit sind wir schon mitten im Dilemma der Globalisierung und des Essens. Denn auch wenn wir so tun – kaum etwas auf dem freien globalen Markt ist wirklich frei. Die europäische Landwirtschaft kann auf dem globalen Markt nur mithalten, da sie mit Steuergeldern massiv unterstützt wird. Das hat Folgen: Deutsche Discounter erobern die Märkte in Osteuropa und zerstören den Einzelhandel, die europäischen Qualitätswaren wie Wein oder Parmesankäse werden vor allem nach Nordamerika und China verkauft, hingegen die Überschüsse, zum Beispiel Milchpulver oder die Reste von Hühnerfleisch zu Billigpreisen nach Afrika exportiert. Dort zerstören sie die lokalen Kleinbauern, die niemals so billig produzieren können wie die subventionierten Großbetriebe aus Europa.

Aber auch in Europa hat der Globalisierungsschub Folgen. Um genau für diesen Weltmarkt immer billiger produzieren zu können, hat die Landwirtschaft einen rasanten Intensivierungsprozess durchgemacht, der unheimlichen Druck erzeugt. Die Agrarbetriebe werden immer größer und die Kühe bekommen immer dickere Euter. Gleichzeitig gibt es immer weniger Landwirte (mindestens zwei Prozent geben jährlich auf), einige verüben ob der aussichtslosen Situation sogar Suizid. Es besteht eine 2,5-fach höhere Selbstmordgefahr als bei anderen Berufsgruppen. Die Böden und das Grundwasser verschmutzen immer stärker und die Artenvielfalt nimmt rapide ab. Die New York Times hat erst kürzlich nachgewiesen, dass sich Karten von grundwasserverseuchten Gebieten in Europa mit Karten von den Gebieten decken, die die meisten EU-Subventionen bekommen.

Verheerende Ökobilanz

Wir wissen auch, dass diese intensive Form der Landwirtschaft ein wesentlicher Faktor der Klimaerwärmung ist. Allein in Deutschland stammen acht Prozent der Treibhausgasemissionen von Methan und Gülle aus der Tierhaltung. Die Fleischproduktion ist zudem völlig ineffizient: 60 Prozent der Agrarfläche in Deutschland werden zur Futtermittelproduktion von Tieren verwendet, die wiederum nur ein Achtel der Energie dieser Futtermittel umsetzen können. Eine einzige Verschwendung von Ressourcen, nur damit wir täglich unser Schnitzel bekommen.

Die auf anhaltendem Wachstum basierende globale Marktwirtschaft zeigt in der Lebensmittelproduktion ihre pervertierte Fratze. Denn wie weit sollen Tiere, Menschen oder Böden weiter intensiviert werden, ohne sie grundlegend zu beschädigen oder gar zu zerstören? Und welchen Sinn ergibt es, Krabben aus der Nordsee nach Marokko oder China zu fliegen, damit sie dort geschält werden, um dann die Rückreise anzutreten? Alles nur, weil die Arbeit dort billiger ist!

Hier sind wir als Verbraucher und Bürger gefragt. Als Verbraucher, weil wir mit dem, was wir einkaufen, sehr wohl die Agrarproduktion in eine bestimmte Richtung lenken können: Welchen ökonomischen Kreislauf unterstütze ich beim Einkauf? Große globale Player oder lokale, womöglich kleine Produzenten? Beim Kauf regionaler Produkte haben alle etwas davon, weil das Geld im lokalen Kreislauf bleibt. Ein unmittelbares direktes Vertrauensverhältnis zwischen Produzent und Konsument lässt sich auch nur im regionalen Kontext herstellen.

Als Bürger sind wir gefragt, weil es in der Landwirtschaft immer auch um politische Rahmenbedingungen geht, wie etwa Lebensmittel produziert werden, mit welchen Folgen für Menschen, Tiere und Umwelt – von der CO2-Bilanz bis zu fairen Löhnen und Auflagen zum Tierwohl, wofür Standards und Etiketten gesetzt werden müssten.

Es geht aber auch um unsere Gesundheit, denn eine gute Ernährung ist die beste Vorsorge und entlastet gesundheitliche Folgekosten. Gesunde Nahrungsmittel sollten daher für jeden zugänglich sein. Doch gute und fair produzierte Lebensmittel haben ihren Preis, gleichzeitig kann es nicht sein, dass wir für Nahrungsmittel heute nur einen Bruchteil von dem ausgeben, was unsere Eltern oder Großeltern dafür bezahlt haben. Wenn das nicht der Markt regeln kann, dann muss es der Staat tun und eine öffentliche Unterstützung in Form von Gutscheinen bereitstellen.

Mit dem riesigen Topf der EU-Agrarförderung könnte ohne Weiteres die Wende zu einer ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft in ganz Europa unterstützt werden, jedoch fehlt die politische Mehrheit dazu. Nach wie vor wird der Großteil dieser Gelder den Agrarbetrieben pro Fläche vergeben, egal was und wie sie produzieren. Je größer der Betrieb, desto mehr Geld gibt es.

Das Gefühl von Verbundenheit

Heute stehen wir aber womöglich vor einer großen Wende. Denn immer mehr Menschen verlangen nach regionalen, wenn möglich biologisch produzierten Lebensmitteln. Während der Corona-Krise gab es sogar eine Steigerung von fast 30 Prozent. Immer mehr Landwirte steigen auf Bio um, trotzdem dürfen wir uns keiner Illusionen hingeben. Der sogenannte „Agrarkomplex“, bestehend aus Bauernverbänden, Futter-, Chemie- und Agrartechnikkonzernen und einigen Banken, ist so intensiv mit der Politik verflochten, dass er versuchen wird, die deutsche und europäische Landwirtschaftspolitik noch lange in seinem Interesse zu beeinflussen. Doch wer weiß, was nach Corona noch alles passieren wird.

Ich werde nie vergessen, dass in meiner Heimat in Südtirol während der Krise die lokalen Kleinbauern mangels Märkten ihr Gemüse, ihren Käse, ja sogar das Fleisch frei Haus geliefert haben, was sie über Newsletter und digitale Plattformen organisierten. Plötzlich einen vollen Sack mit gutem, frischem, noch erdigem Gemüse in der Hand zu halten, gab einem das wunderbare Gefühl von Verbundenheit. Ich bin mir sicher, dass viele die Erfahrungen aus der Corona-Krise, die ihre Essgewohnheiten verändert haben, nicht vergessen. Und ich hoffe, dass immer mehr Menschen verstehen, dass regional und nachhaltig produzierte Lebensmittel einfach mehr Sinn ergeben – für alle.

Andreas Pichler

Andreas Pichler arbeitet als Regisseur und Autor von Dokumentarfilmen
in Italien, Österreich und Deutschland. Viele seiner Filme, etwa „Das System Milch“ und „Alkohol – Der globale Rausch“ liefen europaweit in den Kinos und sind preisgekrönt. Pichler lehrt an der HFF Potsdam, der IUAV-Universität Venedig und an der Filmschule Zelig in Bozen.

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