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Der Staat Israel – neues Ziel von Judenhass

Titelthema - Der Staat Israel – neues Ziel von Judenhass
Der Exodus Palästinas: In der „Nakba“ von 1947/48 wurden rund 800.000 Palästinenser aus ihren Dörfern vertrieben oder flohen aus Angst vor den israelischen Truppen. © pictures from history/universal images group/getty images, florian gaertner/picture alliance/photothek

Im Prozess der Gründung des Staates Israel wurden rund 800.000 Palästinenser vertrieben. Was bedeutet das für den heutigen Umgang mit Israel?

Micha Brumlik01.05.2023

Judenfeindschaft – seit dem späten 19. Jahrhundert als „Antisemitismus“ bezeichnet – gehört zur DNA des christlichen, ja sogar des vorchristlichen Abendlandes. Eine Reaktion von Jüdinnen und Juden darauf war Ende des 19. Jahrhunderts der Wunsch, einen wehrhaften und beschützenden Staat ihr Eigen zu nennen. Dieser erst nach dem Holocaust Wirklichkeit werdende Wunsch aber war seit seinen ersten Artikulationen allemal Ziel von Judenhass – geradeso wie der 1948 gegründete Staat Israel bis zum heutigen Tag.

Diesem Phänomen widmet sich ein von Klaus Holz, dem Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland, und Thomas Haury – der zuletzt ein Buch unter dem Titel Antisemitismus von links publiziert hat – gemeinsam verfasstes Buch, das vor nunmehr zwei Jahren publiziert wurde. Im Zentrum dieses ebenso präzise argumentierenden wie historisch weit ausgreifenden Bandes steht ein Phänomen, das derzeit als „israelbezogener Antisemitismus“ bezeichnet wird.

Zu lernen ist daher nicht nur, dass und wie Stalinismus, DDR sowie linksradikale deutsche Terroristen den Judenstaat verteufelt und zum Inbegriff US-amerikanischen Imperialismus erklärt haben, sondern dass sogar schon Hitler und sein Chefideologe Alfred Rosenberg den Zionismus verteufelt haben, hieß es doch schon in Hitlers Mein Kampf:

„Sie [die Zionisten, M. B.] denken gar nicht daran, in Palästina einen jüdischen Staat aufzubauen, um ihn etwa zu bewohnen, sondern sie wünschen nur eine mit eigenen Hoheitsrechten ausgestattete, dem Zugriff anderer Staaten entzogene Organisationszentrale ihrer internationalen Weltbegaunerei; einen Zufluchtsort überführter Lumpen und eine Hochschule werdender Gauner.“

Israel als Inbegriff des kolonialen Ausgreifens?

Doch geht es bei alledem keineswegs nur um Vergangenheiten, sondern auch – und nicht zuletzt – um christliche Formen von antisemitischer Kritik am Staat Israel, wie sie sich zuletzt im „Kairos-Palästina-Dokument“ des Weltkirchenrates geäußert haben. Dabei rücken auch namhafte evangelische Christen Deutschlands ins Blickfeld, etwa der emeritierte Heidelberger Professor für Missionstheologie Ulrich Duchrow, dem die Autoren angesichts seiner Behauptung, der Staat Israel sei die „Speerspitze des Kolonialismus“, vorhalten, „eine recht krude Variante aus dem Arsenal der Judenfeindschaft“ mit theologischem Antijudaismus verbunden zu haben.

Systematisches Zentrum der komplexen, niemals unbegründeten Kritik an israelbezogenem Antisemitismus aber ist die Auseinandersetzung der beiden Autoren mit jüdischen Kritikern israelischer Politik – hier vor allem mit der bewusst jüdisch auftretenden Judith Butler. Judith Butler – eine „israelbezogene Antisemitin“? Doch sind die Dinge so einfach nicht – ist doch auch Holz und Haury nur zu bewusst, wie kritikwürdig manche Züge der israelischen Politik sind. Weshalb sich die systematische Frage stellt: „Was wäre eine ‚proisraelische Politik‘, die mit einer universalistischen Ethik vereinbar ist und die Antisemitismuskritik nicht unterläuft?“

Diese schwerwiegende Frage beantworten Holz/Haury mit einem Verweis auf die Tradition der idealistischen Philosophie, namentlich auf Hegels Phänomenologie des Geistes; sei doch die israelbezogene Antisemitismuskritik „eine Form des unglücklichen Bewusstseins“, denn: „Der ihr inhärente Universalismus lässt sich nur als bedingter Universalismus einlösen. […] Vielmehr ist die antisemitismuskritische Norm, dass keine Ungleichheit gegen Jüdinnen und Juden legitim sein kann, weil sie jüdisch sind, nicht auf eine partikulare Gruppe beschränkbar. […] Nichts am Antisemitismus ist der Kritik zu entziehen, auch dann nicht, wenn die Kritik in Dilemmata, Ambivalenzen, Ungewissheiten mündet.“

Bei Hegel jedenfalls ist das „unglückliche Bewusstsein“ in sich entzweit, aber eben so, dass es auch immer sein Anderes bei sich hat. Das heißt in diesem Fall, dass eine moraluniversalistische Kritik israelischer Politik immer dann legitim und stimmig ist, wenn sie sich der Gefahr bewusst ist, sich antisemitischer Gedanken zu bedienen. Wissenschaftlich-intellektuell findet diese Debatte ihren Ausdruck in der Einbettung der jüdischen Staatsgründung in das koloniale Ausgreifen Europas in die Länder des Südens: Der Zionismus wird in dieser Weise auf eine Form des Siedlerkolonialismus reduziert. Diese Debatte erschüttert beispielhaft die neuere protestantische Theologie. So hat der bereits erwähnte Duchrow in einer 2016 publizierten Festschrift tatsächlich die These vertreten, dass der Staat Israel geradezu der Inbegriff des kolonialen Ausgreifens Europas sei:

„Im westlichen Imperium ist Israel also das Extrem der westlichen kolonialistischen, kapitalistischen, imperialen, wissenschaftlich-technischen gewalttätigen Eroberungskultur der letzten 500 Jahre.“

Trotz mancher Proteste und Distanzierungen wichtiger Vertreter der evangelischen Kirche hat der Autor seine Behauptung – bei geringfügiger Modifikation – ausdrücklich nicht zurückgenommen, nachzulesen etwa in der Zeitschrift Publik Forum.

Der Ursprung des Konflikts

So entsteht ein auf den ersten Blick widersprüchliches Bild: Während der Staat Israel etwa bei Angela Merkel als Ausdruck einer Renaissance des von Deutschland und seinen Kollaborateuren millionenfach ermordeten jüdischen Volkes erscheint, gilt er andernorts als Inbegriff einer neuen Form von Kolonialismus, von Siedlerkolonialismus – als Ausdruck einer letzten kolonialen Staatsgründung ausgerechnet in jener Zeit, als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Ära des Kolonialismus weitestgehend beendet war. Deutlichster Ausdruck des mit dieser Staatsgründung einhergehenden politischen Unrechts aber war die inzwischen auch von der ernsthaften israelischen Forschung eingeräumte Flucht und Vertreibung von etwa 800.000 palästinensischen Arabern in den Jahren 1947/48. Mehr noch:

„In Wirklichkeit“, so etwa der israelische Historiker Benny Morris, „aber haben die Juden im Laufe des Jahres 1948 weit mehr Grausamkeiten begangen als die Araber und weit mehr Zivilisten und Kriegsgefangene mit vorsätzlicher Brutalität getötet. Das liegt wohl daran, dass die siegreichen Israelis zwischen April und November 1948 rund 400 arabische Dörfer eingenommen haben.“

Auch eine soeben erschienene lückenlose Biografie des Gründers des Staates Israel, David Ben-Gurion, kommt zu einem ähnlichen Schluss. So äußerte Ben-Gurion bereits in den 1930er Jahren: „Ich befürworte einen Zwangstransfer. Ich sehe nichts Unmoralisches daran, allerdings ist ein Zwangstransfer nur durch England, nicht durch die Juden möglich.“

Ein Freund Ben-Gurions, der Dichter Chaim Guri, sah auf seinem Schreibtisch ein Blatt Papier mit einem Vers aus dem Buch Exodus (29,29–30), wo es mit Blick auf die Völker Kanaans hieß: „Nur allmählich will ich sie vor dir zurückdrängen, bis du so zahlreich geworden bist, dass du das Land in Besitz nehmen kannst.“ Auf diese und ähnliche Bibelpassagen stützen sich bis heute die rechtsradikalen fundamentalistischen jüdischen Siedler im Westjordanland.

Keine „Nakba“ auf dem Kirchentag

Wie aktuell diese Auseinandersetzungen sind, zeigt eine erneute Debatte um den Deutschen Evangelischen Kirchentag 2023. So wäre es keineswegs das erste Mal, dass auf einem Kirchentag eine Ausstellung über die „Nakba“, die Vertreibung von circa 800.000 Palästinensern während der Gründung des Staates Israel, gezeigt wird. Schon 2013 wurde das Zeigen dieser Dokumentation aufs Schärfste kritisiert, und nun, 2023, hat die Leitung des Kirchentages – der Präsident Thomas de Maizière sowie die Generalsekretärin Kirsten Jahn – entschieden, dass „Nakba“ überhaupt nicht, auch nicht auf dem „Markt der Möglichkeiten“, gezeigt werden darf. In diesem Zusammenhang hat jedoch laut dem Evangelischen Pressedienst epd eine Gruppe prominenter Christen kritisiert, dass die Ausstellung „Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948“ nicht auf dem Evangelischen Kirchentag im Juni in Nürnberg gezeigt werden soll. „Diese Ausstellung ist auf früheren Kirchentagen schon gezeigt worden. Angesichts der neuen, uns beunruhigenden Israel/ Palästina-Krise halten wir es für wichtig, sie erneut zur Diskussion zu stellen“, heißt es in einer Erklärung, die dem epd vorliegt.

Worum geht es?

Um eine Ausstellung, die in Wort und Bild belegt, dass im Prozess der Gründung des Staates Israel in den Jahren 1947 und 1948 alles in allem 800.000 Palästinenserinnen und Palästinenser – sowohl langjährig geplant als auch spontan von jüdisch-israelischen Streitkräften vorsätzlich aus ihrer Heimat vertrieben wurden, um ein einheitliches, jüdisch besiedeltes Staatsgebiet zu gewährleisten; eine Tatsache, die inzwischen auch von seriöser israelischer Forschung nicht mehr bestritten wird. So hat der in Exeter lehrende jüdisch-israelische Historiker Ilan Pappe in seinem 2019 auf Deutsch erschienenen Buch Die ethnische Säuberung Palästinas präzise nachgewiesen, dass die Vertreibung und (gegebenenfalls gewaltsame) Aussiedlung der Palästinenser Jahre zuvor bis ins Detail geplant war.

Micha Brumlik
Micha Brumlik ist Erziehungswissenschaftler und Publizist. Seit Oktober 2013 ist er Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und seit 2017 Seniorprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.