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Titelthema: Populismus

Der populistische Moment

Die Erfolge populistischer Bewegungen sind Ausdruck einer Krise der liberal-demokratischen Politik. Gedanken zu deren Ursache und mögliche Antworten

Chantal Mouffe01.05.2017

Wir erleben gerade einen „populistischen Moment“ in Europa, der einen Wendepunkt für unsere Demokratien bedeutet, deren Zukunft von der Antwort auf diese Herausforderung abhän­gen wird. Um dieser Situation zu begegnen, ist es notwendig, die vereinfachte Sicht der Medien, den Populismus als reine Dema­­gogie darzustellen, über Bord zu werfen und eine analytische Perspektive einzunehmen. Ich schlage vor, Ernesto Laclau zu folgen, der den Populismus als Form der Konstruktion des Politischen durch Errichtung einer politischen Grenze definiert, die die Gesellschaft in zwei Lager spaltet und zur Mobilisierung derer „da unten“ gegen die „da oben“ führt.

Keine Ideologie
Populismus ist weder eine Ideologie noch ein politisches System und kann keinem bestimmten programmatischen Inhalt zu­geordnet werden. Er ist mit verschiedenen Staatsformen vereinbar. Er ist eine Art und Weise, Politik zu machen, die je nach Ort und Zeit unterschiedliche Gestalt annehmen kann. Er entsteht, wenn beabsichtigt ist, ein neues Subjekt kollek­tiven Handelns – das Volk – zu konstruie­ren, das imstande ist, eine als ungerecht erlebte Gesellschaftsordnung neu zu ge­stalten.

Aus dieser Perspektive untersucht, ist der jüngste Erfolg populistischer Politikformen in Europa Ausdruck einer Krise der liberal-demokratischen Politik. Dies ist auf das Zusammentreffen mehrerer Phänomene zurückzuführen, die in den letzten Jahren die Bedingungen beeinflusst haben, unter denen die Demokratie ausgeübt wird. Das erste Phänomen, das ich als „Postpolitik“ bezeichnen möchte, bezieht sich auf das Verschwimmen der poli­tischen Grenzen zwischen rechts und links. Es war das Ergebnis des Konsenses zwischen den Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien über die Auffassung, es gebe keine Alternative zur neoliberalen Globalisierung. Unter dem Gebot der „Modernisierung“ akzeptierten sie das Diktat des globalisierten Finanzkapitalismus und die Grenzen, die er staatlicher Intervention und öffentlicher Politik auferlegte. Die Rolle der Parlamente und Institutionen, die den Bürgern ermöglichen, politische Entscheidungen zu beeinflussen, wurde drastisch reduziert. Das Konzept, das im Zentrum des demokratischen Ideals stand, nämlich die Macht des Volkes, wurde aufgegeben. Wenn man heu­­te von „Demokratie“ spricht, bezieht sich dies lediglich auf das Vorhandensein von Wahlen und die Verteidigung der Menschenrechte.

Diese Entwicklung, die bei Weitem kei­nen Fortschritt hin zu einer reiferen Gesellschaft darstellt, wie manchmal behauptet wird, untergräbt die Grundfesten unseres westlichen Demokratiemodells, das üblicherweise als „liberale Demokratie“ bezeichnet wird. Dieses Modell war das Ergebnis der Verbindung zweier Tradi­tionen. Die erste ist die liberale Tradition des Rechtsstaates, der Gewaltenteilung und der Bekräftigung der individuellen Freiheit. Die zweite ist die demokratische Tra­dition der Gleichheit und der Volkssouveränität. Zweifellos sind diese beiden poli­tischen Logiken letztlich nicht vereinbar, da immer eine Spannung zwischen den Grundsätzen der Freiheit und der Gleichheit bestehen wird. Doch diese Spannung ist ein konstitutives Merkmal unseres Demokratiemodells, da sie Pluralismus garantiert.

Aufhebung der Gegensätze
Die gesamte europäische Geschichte hindurch wurde durch ein „agonistisches“ Ringen zwischen der „Rechten“, die der Freiheit den Vorzug gibt, und der „Linken“, die die Gleichheit betont, geprägt. Als die Grenze zwischen links und rechts durch die Reduktion der Demokratie auf ihre libe­rale Dimension mehr und mehr ver­schwamm, verschwand der Raum, in dem die agonistische Konfrontation zwischen Gegnern stattfinden konnte. Und heute fin­det die demokratische Bestrebung inner­halb des traditionellen politischen Rahmens keine Kanäle zur Meinungsäuße­rung mehr. Der „Demos“, das souveräne Volk, wurde zu einer „Zombie“-Kategorie erklärt, sodass wir jetzt in „postdemokrati­schen“ Gesellschaften leben.

„Oligarchisierung“ der Gesellschaft
Diese Veränderungen auf der politischen Ebene fanden im Rahmen einer neuen „neoliberalen“ hegemonialen Formierung statt. Diese ist durch eine Form der Regulierung des Kapitalismus gekennzeichnet, in der das Finanzkapital von zentraler Bedeutung ist. Wir haben eine exponentielle Zunahme der Ungleichheit erlebt, die nicht nur die Arbeiterschaft betrifft, sondern auch einen großen Teil der Mittel­schicht, der in einen Prozess der Verarmung und Prekarisierung eingetreten ist. Man kann daher von einem echten Phänomen der „Oligarchisierung“ unserer Gesell­schaf­ten sprechen. In diesem Kontext der gesell­­schaftlichen und politischen Krise ent­stand eine Vielzahl populistischer Bewegungen, die die Postpolitik und die Postdemokratie ablehnen.

Sie behaupten, dem Volk die Stimme zurückzugeben, die ihm von den Eliten entzogen wurde. Unabhängig von den pro­blematischen Formen, die einige dieser Bewegungen annehmen mögen, ist es wich­tig zu erkennen, dass sie Ausdruck legitimer demokratischer Bestrebungen sind. Das Volk kann jedoch sehr unter­schied­lich konstruiert werden, und das Problem besteht darin, dass dies nicht immer in eine progressive Richtung geht. In mehreren europäischen Ländern wurde dieses Streben nach Wiedererlangung der Souve­ränität von rechtspopulistischen Parteien gekapert, denen es gelang, das Volk mithil­fe eines xenophoben Diskurses zu konstru­ieren, der Immigranten, die als Bedrohung für den nationalen Wohlstand gesehen werden, ausschließt. Diese Partei­en konstruieren ein Volk, das nach einer Demokra­tie ruft, die ausschließlich auf die Verteidigung der Interessen derer ge­richtet ist, die als „echte Volkszugehörige“ gelten.

Der einzige Weg, das Entstehen solcher Parteien zu verhindern und sich den bereits existierenden entgegenzustellen, ist die Konstruktion eines anderen Volkes durch Förderung einer progressiven populistischen Bewegung, die diese demokratischen Bestrebungen bereitwillig aufnimmt und auf die Verteidigung der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit richtet.

Populismus von links
Das Fehlen eines Narrativs, das imstande ist, ein anderes Vokabular für die Formulierung dieser demokratischen Forderungen zu bieten, erklärt, warum der Rechtspopulismus in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen auf Resonanz stößt. Es ist dringend notwendig zu erkennen, dass die mora­lische Verurteilung und Dämonisierung seiner Anhänger nicht funktioniert, um diese Art von Populismus zu bekämpfen. Eine solche Strategie ist völlig kontraproduktiv, weil sie die Anti-Establishment-­Gefühle der popularen Klassen noch verstärkt. Statt ihre Forderungen zu disqualifizieren, bedürfen sie einer progressiven Formulierung, die den Gegner als Konfigu­ration der Kräfte definiert, die das neolibe­rale Projekt stärken und fördern. Hier geht es darum, einen kollektiven Willen zu schaf­fen, der eine Synergie zwischen der Vielzahl der gesellschaftlichen Bewegungen und politischen Kräfte bewirkt und auf die Vertiefung der Demokratie gerichtet ist. Ange­sichts der Tatsache, dass zahlreiche gesellschaftliche Sektoren unter den Auswirkungen des Finanzmarkt-Kapitalismus leiden, besteht die Möglichkeit, dass dieser kollektive Wille einen übergreifenden Charakter haben wird, der über die traditionelle Rechts-links-Spaltung hinausgeht.

Um der Herausforderung zu begegnen, die der populistische Moment für die Zukunft der Demokratie darstellt, wird eine Politik gebraucht, die die agonistische Spannung zwischen der liberalen Logik und der demokratischen Logik wiederherstellt. Trotz allem, was bisweilen behauptet wird, ist dies möglich, ohne die grundlegenden demokratischen Institutionen zu gefährden. Ein progressiv konzipierter Populismus ist weit davon entfernt, die Demokratie zu per­vertieren, sondern stellt die geeignetste politische Kraft dar, sie wiederzuerlangen und im Europa von heute auszubreiten.

Chantal Mouffe

Chantal Mouffe ist Professorin für Politische Theorie an der University of Westminster in London. 2018 erschien „Für einen linken Populismus“ (Suhrkamp).
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