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Titelthema

Couchsurfing in Russland

Titelthema - Couchsurfing in Russland
Typischer Eingang eines 18-stöckigen Hochhauses aus der Stalin-Zeit. Als Fotograf Frank Herfort seine Aufnahme vorbereitete, tauchte plötzlich dieser Hund auf, stellte sich in die Mitte des Raumes und starrte auf die Briefkästen. © Frank Herfort

Bestsellerautor Stephan Orth wollte das wahre Russland kennenlernen, Russland abseits des Massentourismus. Erinnerungen an unvergessliche Begegnungen.

Stephan Orth01.01.2021

Im Grunde tut Genrich aus Moskau alles, um möglichst selten Besuch zu haben. Sein Online-Profil auf der Website couchsurfing.com enthält seitenlange Ausführungen darüber, wie sich ein guter Gast verhalten müsse, Instruktionen zu Körperhygiene und Höflichkeit sowie den Satz: „Wer mich um einen Schlafplatz bittet, bestätigt damit, die Prinzipien des Zusammenlebens, die ich in meinem Profil aufgelistet habe, gelesen und verstanden zu haben, und verspricht, sich an sie zu halten.“

Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt Genrich, wie er auf der polierten Motorhaube eines Geländewagens sitzt. Er hat kaum Haare auf dem Kopf, dafür einen Vollbart, der den späten Dostojewski neidisch gemacht hätte, und mustert den Betrachter mit ernsten Augen und tiefen Falten der Skepsis auf der Stirn. Man könnte sich das Bild gut an der „Mitarbeiter-des-Monats“-Fotowand eines Inkasso-Unternehmens vorstellen. Daneben führt ein Link zu einem Formular mit Ankreuzkästen, mit dem man testen kann, ob man qualifiziert ist für Genrichs Gastfreundlichkeit.

Ganz schön bürokratisch, dieses Russland, dachte ich. Trotzdem schrieb ich ihn an und fragte, ob er mich für drei Tage beherbergen könne. Das ist die Idee von Couchsurfing: Mit Hilfe der Website bieten weltweit Millionen Menschen eine Gratis-Couch für Reisende an, ein wunderbares Mittel, mit Einheimischen Zeit zu verbringen. Zumindest, wenn man beim Komfort auch mal Abstriche machen kann. Ich nutze das seit etwa 15 Jahren auf fast jeder Reise und habe auch bei mir in Hamburg oft ausländischen Besuch.

Genrich überraschte mich mit einer Zusage innerhalb von drei Minuten. Er lud mich ein und wies noch darauf hin, bitte eine genaue Ankunftszeit mitzuteilen, pünktlich zu sein und nicht mit überflüssigen Fragen zur Anreise zu nerven, sondern auf die beigefügten zehn Links zu relevanten Verkehrsmitteln zurückzugreifen. Ein paar Tage später wurde ich erneut überrascht: von Genrichs enormer Gastfreundlichkeit, seiner zuvorkommenden Art und seinen sensationellen Kochkünsten. Später verriet er mir, warum er sich so abweisend im Internet präsentiere: „Früher bekam ich viel zu viele Anfragen. Jetzt lade ich nur diejenigen ein, die es wirklich verdienen.“

Acht Schüsse zur Begrüßung

Russland ist ein Land, das es dem Besucher auf den ersten Blick nicht leicht macht. In der Öffentlichkeit wirken viele Menschen ernst, im Tante-Emma-Laden wird man schon mal behandelt wie ein Störenfried, der die willkommene Pause unterbricht. Doch sobald man ein paar Leute besser kennenlernt, zeigt sich ein völlig anderes Bild: Oft hatte ich als Besucher in den Wohnungen schon nach wenigen Minuten das Gefühl, zur Familie zu gehören, wenn wieder einmal ein Gastgeber alles auftischte, was der Kühlschrank hergab.

Zum Beispiel bei Murad in Grosny. Kein Reiseziel, das man leichten Herzens besucht, zu präsent sind im Kopf noch die Bilder des Tschetschenien-Krieges, zu gruselig sind die Dinge, die man über den aktuellen Machthaber Ramsan Kadyrow hört. Ich bin trotzdem hingeflogen und habe bei Murad gewohnt, einem Englischlehrer, 37 Jahre alt. Er berichtete viel von seiner Abneigung gegenüber der Regierung in Moskau und erklärte mir Nachkriegs-Tschetschenien so: „Putin schickt Geld, dafür müssen wir seine Spielregeln einhalten. Die lokalen Machthaber sind Speichellecker, denen ist es egal, was die Leute denken, sie interessiert, was Putin will. Wer etwas Positives über den Präsidenten sagt, kommt ins Fernsehen und hofft dadurch auf Vorteile.“

Zufällig war ich am Tag des Fastenbrechens dort, einem der wichtigsten muslimischen Feiertage. Dann ist es üblich, nacheinander Familienmitglieder und Freunde zu Hause zu besuchen und enorme Mengen Fleischbällchen, Teigtaschen und Süßkram zu essen. Die Eindrücke dieser ganztägigen Rundfahrt bleiben unvergesslich: Ein Cousin, der als Polizist arbeitet, schoss zur Begrüßung achtmal mit seiner Makarow-Pistole in die Luft. Ein Mütterchen mit Goldzähnen sagte, ich solle doch einfach hier im Dorf bleiben, sie würde schnell eine schöne Frau für mich finden. Ein Verwandter berich- tete, als er von meinem Herkunftsland erfuhr: „Wir haben hier einen Witz: Es wäre besser, wenn die Deutschen den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten, dann würden jetzt alle hier Mercedes fahren.“ Nur einer von uns beiden lachte laut.

Auf dem Kiesbett rechts überholen

Gerade im ländlichen Russland passiert immer wieder Interessantes, wenn man sich als Deutscher zu erkennen gibt. In einer Moschee in der Stadt Argun spielte mir der Wachmann „Was wollen wir trinken, sieben Tage lang“ auf seinem Handy vor (ohne zu ahnen, von welch verbotenen Genüssen der Text handelt). Ein anderer Gesprächspartner war davon überzeugt, Angela Merkel würde in geheimen unterirdischen Palästen in allergrößtem Prunk leben, ihr bescheidenes Auftreten sei nur Fassade. „Das wird schon noch ans Tageslicht kommen, warte nur ab“, sagte er.

Doch die meiste Zeit der Reise erfuhr ich Dinge über Russland, nicht über Deutschland. Zum Beispiel von Nadja aus Nowosibirsk, die mich mitnahm auf einen siebentägigen Roadtrip in die spektakuläre Altai-Bergregion.

Erste Lektion: Improvisation schlägt Regeltreue. Beim Autoverleih merkte ich, dass mein internationaler Führerschein abgelaufen war. Sie schlug dem Vermieter vor, das per Photoshop-Manipulation zu reparieren: „Wenn man bei einer Polizeikontrolle nur ein Bild des Lappens zeigen kann, kostet das nur ein paar Rubel Strafe. Und auf dem Foto ändern wir das Datum.“ Der Mann gab uns tatsächlich das Auto.

Zweite Lektion: Auf russischen Straßen gelten eigene Regeln. Ich lernte, dass Bremsen und Zurückscheren während eines zu optimistisch berechneten Überholmanövers keine Notfall-Ausnahmen sind, sondern täglich mehrere Male trainiert werden kann. Dass man beim Anblick von Tieren auf der Fahrbahn hupt, anstatt zu bremsen. Dass ein Kiesbett nicht nur Dekoration ist, sondern sich bestens zum Rechts-Überholen eignet. Und sowieso, dass Tempolimits eher Vorschläge als zwingende Gesetze sind.

Aus verschiedenen der genannten Faktoren zusammen ergab sich die dritte Lektion: Wenn zwei Reifen platt sind, ist ein Ersatzreifen zu wenig. Mitten in der Nacht mussten wir den Abschleppdienst rufen, weil Nadja mit 80 über einen spitzen Stein gebrettert war. Die Helfer kamen zwei Stunden später, sie wirkten ein wenig angetrunken, offenbar hatte sie unser Anruf beim Feierabend-Wodka gestört. Trotzdem gelang es ihnen, unseren Mietwagen auf die Ladefläche ihres Trucks zu heben, 100 Kilometer zur Werkstatt zu fahren und die Reifen zu flicken.

Vierte Lektion: Russen genießen den Moment, statt ständig an Morgen oder Gestern zu denken. Um vier Uhr war der Wagen wieder brauchbar und alle Anwesenden todmüde. Dennoch feierten wir mit einer Runde Wodka. „Ein Deutscher mit kaputtem Auto – das ist einfach zu absurd und herrlich“, sagte einer der Schraubschlüssel-Helden.

Anscheinend glaubte er, ich sei wegen meiner Herkunft aus dem Land hochwertiger Autos gegen Pannen immun. Wir können noch viel übereinander lernen.


Buchtipp

 


Stephan Orth

Couchsurfing in Russland

Malik 2017, 256 Seiten, 16,99 Euro

piper.de

Stephan Orth

Stephan Orth ist Autor, Couchsurfer und Vortragsredner. Die Bücher über seine Reisen waren monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste vertreten. Für „Couchsurfing in Russland“ wurde er mit dem „ITB-BuchAward“ ausgezeichnet. Im Februar 2021 erscheint sein neues Werk „Couchsurfing in Saudi-Arabien“.

stephan-orth.de