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Titelthema

Bitte möglichst fleischfrei

Titelthema - Bitte möglichst fleischfrei
© Martin Graf

Geboren, verstümmelt, getötet: ein Plädoyer für mehr Tierwohl.

Friederike Schmitz01.07.2019

Dass die moderne Fleischproduktion für die meisten betroffenen Tiere kein Wellness-Urlaub ist, hat sich schon herumgesprochen. Aber muss man deshalb gleich ganz damit aufhören, Fleisch von echten Tieren zu produzieren und zu essen? Immerhin nutzen und töten die Menschen seit Jahrtausenden Tiere für ihre Ernährung. Handelt es sich bei dem Veggie-Hype nicht bloß um eine Entfremdung von der Natur, wie der bayerische Politiker Hubert Aiwanger kürzlich kritisierte?

Tatsächlich stellt sich im Hinblick auf unseren Umgang mit Tieren heute eine grundlegende Rechtfertigungsfrage. Denn um gesund und gut zu leben, müssen wir weder Fleisch noch Milch oder Eier verzehren. Wir haben also eine Wahl. Um eine begründete Entscheidung zu treffen, müssen wir uns sowohl mit der Realität der Tierhaltung als auch mit dem ethischen Status von Tieren beschäftigen. Zuvor müssen wir allerdings zwei Denkbarrieren aus dem Weg räumen, die häufig genau diese Auseinandersetzung verhindern.

Barriere Nummer eins: „Es muss doch jeder selbst entscheiden, ob er Fleisch isst oder nicht!“ Was den eigenen Konsum betrifft, stimmt das natürlich – ist allerdings ein Grund mehr, sich mit den Argumenten pro und contra zu befassen. Und auf gesellschaftlicher und politischer Ebene ist der Umgang mit Tieren durchaus etwas, das wir gemeinsam regeln: Wir haben eine Agrarpolitik und ein Tierschutzgesetz, und beide könnten geändert werden.

Barriere Nummer zwei: „Menschen sind von Natur aus Allesesser, daher ist es nur natürlich, dass wir Tiere töten und verspeisen, schließlich machen es der Löwe und die Spitzmaus ebenso!“ Es stimmt zwar, dass wir uns einen Großteil unserer Speziesgeschichte zumindest teilweise von gejagten und gefundenen Tierkörpern ernährt haben. Daraus folgt aber nicht, dass wir genauso weitermachen müssen. „Die Natur“ gilt in unserer Gesellschaft nicht als Maßstab für das richtige Handeln – weder Schnellzüge noch Menschenrechte sind besonders „natürlich“. Davon abgesehen hat die moderne Tierhaltung herzlich wenig mit der Beutejagd von Raubtieren zu tun. Nicht nur die Haltungssysteme und Tötungsanlagen, sondern die Tiere selbst sind von Menschen mithilfe von Wissenschaft und Technik hergestellte Artefakte, die vollständig auf ihren Produktionszweck hin „optimiert“ wurden.

Grausame Zuchtmethoden
Und selbst wenn es grundsätzlich in Ordnung wäre, Tiere zu essen, würde das noch nicht den real üblichen Umgang mit ihnen rechtfertigen. Obwohl die sogenannte Massentierhaltung insgesamt keinen guten Ruf hat, kennen die wenigsten Menschen die grausigen Details. Die Tiere werden so gezüchtet, dass schon ihre körperliche Verfassung ihnen Schmerzen und Leid verursacht. Kühe haben übergroße Euter, die zu schmerzhaften Entzündungen neigen. Masthühner wachsen so schnell, dass Studien zufolge fast 90 Prozent von ihnen vor der Schlachtung nicht richtig laufen können – obwohl sie erst vier Wochen alt sind. Viele Tiere werden körperlich verstümmelt: Rindern werden die Hornansätze ausgebrannt, Schweinen die Hoden herausgeschnitten, Puten die empfindlichen Schnäbel gekürzt, alles ohne Betäubung.

In den Zucht- und Mastanlagen können die Tiere ihre vielfältigen Verhaltensbedürfnisse – nach Körperpflege, Sozialleben oder auch nur Bewegung – nicht oder nur sehr eingeschränkt ausleben. Auf Familienstrukturen wird keine Rücksicht genommen. Während Hühner und Puten schon maschinell ausgebrütet werden und ohne Mütter aufwachsen, werden Kühen ihre Kälber am ersten Tag, Sauen die Ferkel nach wenigen Wochen weggenommen.

Viele Menschen meinen, dass sie durch den Kauf von höherpreisigen Tierprodukten Tieren ein besseres Leben ermöglichen können. Tatsächlich unterscheiden sich aber die Umgangsweisen nur geringfügig – einem „Bioschwein“ zum Beispiel steht ein Auslauf von einem Quadratmeter zu. Auch dort können zentrale Verhaltensweisen nicht ausgelebt werden. Die meisten Tiere in Biohaltung führen ebenso verarmte Leben und sterben in normalen Schlachthöfen, wo es unter Zeitdruck regelmäßig zu Gewalt und Fehlbetäubungen kommt, wie Undercover-Aufnahmen belegen.

Wie ist diese Praxis nun ethisch zu beurteilen? Die aktuell übliche Nutzung und Tötung von Tieren ließe sich nur rechtfertigen, wenn ihr Leben und Leiden völlig egal wären. Das allerdings denkt heute niemand mehr. Kürzlich zeigte die Debatte zum Kükentöten, dass sehr viele Menschen nicht wollen, dass Tiere „unnötig“ leiden und sterben. Diese Position ist zudem gut begründet: Tiere wie Rinder, Schweine und Hühner teilen mit uns Menschen wesentliche Eigenschaften, allen voran die Empfindungsfähigkeit. Sie können leiden, ganz ähnlich wie wir. Sie hängen an ihrem Leben, ganz ähnlich wie wir.

Wenn wir insgesamt eine gerechte Welt wollen, wenn wir unnötiges Leiden und Sterben verhindern wollen, dann gibt es keinen Grund, dabei die Tiere zu ignorieren. Konsequent weitergedacht folgt daraus, dass wir den Konsum und damit auch die Produktion von Fleisch, Milch und Eiern beenden sollten, wofür neben tierethischen auch starke umwelt- und klimapolitische Argumente sprechen. Ob Laborfleisch eine gute Alternative ist, wird von dessen Produktionsbedingungen abhängen. Glücklicherweise müssen wir darauf nicht warten, da pflanzliche Alternativen bereits in großer Vielfalt zur Verfügung stehen.

Friederike Schmitz
Dr. Friederike Schmitz ist Autorin, Referentin und Trainerin mit den Schwerpunkten Ethik und Politik der Mensch-Tier-Beziehung sowie Folgen der aktuellen Landwirtschaft und Agrarwende. friederikeschmitz.de