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Als die Lichter verlöschten

Forum - Als die Lichter verlöschten
„Ruhende Kompanie“, Werk 14 aus Otto Dix’ Mappenwerk „Der Krieg“ von 1924. In 50 Radierungen zeigte der Künstler seinen Blick auf den Ersten Weltkrieg © the john r. van derlip fund and gift of funds from alfred and ingrid lenz harrison and the regis foundation/bridgeman images

Kaiserdämmerung, das neue Buch von Rainer F. Schmidt, untersucht, ob der französisch-russischen Politik eine Mitschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zukommt.

Gerhard Fritz01.01.2022

Das hier zu besprechende Buch hat eine Vorgeschichte: Rainer F. Schmidt, Würzburger Emeritus, hat 2016 in der Historischen Zeitschrift (HZ) einen Beitrag über die französische Politik im Vorfeld des Ersten Weltkriegs veröffentlicht (Revanche pour Sedan), in dem er Frankreich, insbesondere Raymond Poincaré, eine gezielte Politik der Kriegsentfesselung vorwarf. Die Reaktion auf diese Umkehr all dessen, was seit der Fischer-These der 1960er Jahre zum Gemeingut bis in die deutschen Schulbücher hinein geworden war, war einzigartig. Bekanntlich hatte ja Fischer Deutschland die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg vorgeworfen.


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Ein gewisser Robert C. Moore, unter den Fachleuten der Geschichte des Ersten Weltkriegs gänzlich unbekannt, erhob, zwar ohne Argumente und Quellenkenntnis, aber ganz im Sinne der Political und Historical Correctness, den Vorwurf, Schmidt habe in finsterster Tradition nur die Exkulpation Deutschlands betreiben wollen. Das Unglaubliche war: Moore ist offenkundig ein Pseudonym, hinter dem sich jemand verbirgt, der Schmidt regelrecht exekutieren wollte. Und noch unglaublicher: Die HZ, nach ihrer Selbstdarstellung der „Gold-Standard“ historischer Publikationen, hat sich zu diesem Spiel hergegeben. 2020 antwortete Schmidt in der HZ in einem auch geschichtstheoretisch bemerkenswerten Beitrag auf die Invektiven Moores.

Antagonistische Blöcke in Europa

Insgesamt ist Schmidts Ansatz so neu nicht: Nicht erst seit Christopher Clarks 2013 erschienenen Schlafwandlern sind diejenigen Historiker in die Defensive geraten, die in der Tradition von Fischer und Geiss mit der sogenannten Kriegsschuldfrage abgeschlossen hatten. Dabei begann die neue Debatte keineswegs erst mit Clark. Schon Niall Ferguson, dann Konrad Canis, Douglas Newton, Gerry Docherty, Jim Macgregor und Sean McMeekin haben so viel Material zusammengetragen, dass, abgesehen von Annika Mombauer und einigen eher der Politszene als den Historikern zugehörigen Randgestalten, niemand mehr Fischers Fähnlein hochhält. Allerdings bezieht auch Gerd Krumeich, der Moores Machwerk noch als „Schmäh in extenso“ kritisiert hatte, Position gegen Schmidts Beiträge und Buch, wegen Details (unter anderem wegen falscher Opferzahlen des Ersten Weltkriegs) und, darauf aufbauend, auch grundsätzlich.

All das, was 2016 bis 2020 in der HZ ausgefochten wurde, wird in Kaiserdämmerung in einen größeren Zusammenhang gestellt. Schmidt geht davon aus, dass Deutschland innen- und außenpolitisch seit 1890 keine Sonderrolle in Europa gespielt habe. Damit berührt er neue Ansätze wie den von Hedwig Richter, die das Kaiserreich als nicht reaktionärer darstellt als andere Staaten – wofür Richter von etablierten Historikern heftig angegangen wurde. Schmidt geht davon aus, dass es seit 1890 nur noch antagonistische Blöcke in Europa gegeben habe, sodass die einzelnen Staaten zunehmend dem Zwang zu allianzkonformem Verhalten unterworfen gewesen seien. Zur russisch-französischen Allianz führt er Zitate an, die am aggressiven Willen, dieses Bündnis zur gezielten Kriegsvorbereitung zu benützen, keinen Zweifel lassen.

Deutschland in die Enge getrieben

Die nur mit enormen Summen französischen Geldes mögliche russische Aufrüstung und der gewaltige Ausbau des russischen Eisenbahnnetzes bis zur deutschen Grenze in den Jahren vor 1914 ordnet Schmidt in denselben Zusammenhang ein, ebenso auch die Politik Poincarés seit 1912, der Russland mehrere politische Blankoschecks ausgestellt habe. Der von Poincaré in Petersburg platzierte Botschafter Delcassé habe die auf Krieg zielende französische Politik auf den Punkt gebracht. Es gehe darum, Deutschland so weit zu bringen, dass ihm „die Initiative einer Kriegserklärung an Russland“ zugeschoben werden könne. Paris und Petersburg hätten die Spannungen in Europa angeheizt, seit 1904 assistiert von London, und der Balkan sei gezielt als Hebel genutzt worden. Zudem habe der britisch-russische Kolonialausgleich von 1907 und die 1914 vorbereitete britisch-russische Flottenkonvention die Lage für Deutschland weiter verschärft.

Die über einen Spion aus London einlaufende Meldung, dass die britische Marine im Kriegsfall russische Truppen an der deutschen Ostseeküste landen wolle, habe in Berlin geradezu zu einer Panik geführt. Tatsächlich sei es gelungen, Deutschland so in die Enge zu treiben, dass dieses 1914 in der irrigen Hoffnung, die antideutsche Koalition zu destabilisieren, einen sträflich leichtsinnigen Kurs einschlug, der in den Krieg mündete – so wie von Frankreich gewünscht, erzwungen durch die russische Mobilmachung, auf die Deutschland angesichts der militärischen Ablaufzwänge des Schlieffenplans (der Frankreich bekannt war) nur mit der Kriegserklärung an Russland habe reagieren können. Schmidt unterscheidet: Die kurzfristige „Kriegsauslösung“ sei auf das deutsche Konto gegangen, die längerfristige „Kriegsentfesselung“ sei dagegen das Ergebnis insbesondere der französisch-russischen Politik gewesen. Eine ebenso einfältige wie großmäulige Politik von Reichskanzler Bülow, die sich in dem Glauben gewiegt habe, Deutschland habe bezüglich der europäischen Großmächte freie Handlungsoptionen, habe es den Gegnern Deutschlands leicht gemacht – und Bülows Nachfolger Bethmann Hollweg habe weder die Möglichkeit noch die Fähigkeit gehabt, daran etwas zu ändern.

Französische Akten manipuliert?

Krumeichs Vorwurf, dass Poincaré der „Bösewicht“ sei, verengt Schmidts Argumentation. In der Tat kommt Poincaré bei Schmidt nicht gut weg. Doch Schmidt begründet dies ausführlich. Und andere kommen genauso schlecht weg, so der britische Außenminister Grey, der mit offenkundigen Lügen das eigene Kabinett und Parlament hinters Licht und sein Land in den Krieg geführt habe. Ebenso hart kritisiert wird die deutsche Außenpolitik von Bülow und Bethmann Hollweg, die ohne Überlegungen, wohin das führt, mit einer 1914 auf die Spitze getriebenen Risikopolitik mit dem Feuer gespielt habe.

Ergänzend zu Schmidt noch Folgendes zur Quellenlage zum Beginn des Ersten Weltkriegs: 1978 referierte der amerikanische Historiker Harold Deutsch im Historischen Kolloquium an der Universität Stuttgart. Er berichtete, er habe 1938 am internationalen Historikerkongress in Zürich teilgenommen. Dort habe er den Herausgeber der britischen Akten aus der Zeit von vor und zum Ersten Weltkrieg getroffen. Auf Deutschs Frage, ob die Ankündigung im Vorwort stimme, dass auch für die britische Regierung unangenehme und kompromittierende Akten publiziert worden seien, sei ihm geantwortet worden: Es stimme alles, mit einer Einschränkung. Alle Akten, die Frankreich mitbeträfen, hätten den Franzosen zur Billigung vorgelegt werden müssen. In einigen Fällen hätten die Franzosen Einwände gehabt, zum Teil hätten sie sogar verlangt, exakt das Gegenteil von dem zu publizieren, was in den Akten drinstand. Was aber sei dann von der offiziellen französischen Aktenedition zu halten, wo nicht einmal, wie hier, neutrale britische Historiker am Werk waren, sondern französische Ministerialbeamte, die durch eine „positive“ Veröffentlichung Pluspunkte für ihre Karriere sammeln konnten?

Der Rezensent hat seinerzeit am Kolloquium teilgenommen und mitgeschrieben. Es stellt sich angesichts von Deutschs Aussagen in der Tat die Frage, ob französische Akteneditionen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs glaubwürdig sind. Der Rezensent hat seitdem tief sitzende Zweifel, inwieweit Akteneditionen – und nicht nur französischen – zum 20. Jahrhundert überhaupt zu trauen ist.


Buchtipp

 

Rainer F. Schmidt

Kaiserdämmerung. Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang

Klett-Cotta 2021, 878 Seiten, 38 Euro

Gerhard Fritz

Prof. Dr. Gerhard Fritz habilitierte sich in Neuerer Geschichte an der Universität Stuttgart. Von 2002 bis 2020 war er Inhaber der Professur für Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.

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