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Debatte

Wohin entwickelt sich Rotary?

»?Let’s Share Your Rotary Vision?« lautet das Motto des Rotary-Instituts am 8. und 9. November 2014 in Berlin. Doch warum braucht eine Organisation, die für gewöhnlich als eine Gemeinschaft der Erfolgreichen gilt, eine Idee für die Zukunft? Gedanken und Anmerkungen von René Nehring – Illustrationen: Sascha Westphal

15.09.2014

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Rotary in Deutschland und Österreich geht es gut. Mit über 60.000 Mitgliedern in über 1.100 Clubs zählt die Organisation hierzulande heute rund 12.000 Freundinnen und Freunde mehr als noch vor rund zehn Jahren. Und jedes Jahr wächst Rotary zwischen Flensburger Förde und Brenner, zwischen Maas und Oder um weitere ein bis zwei Prozent. Zudem ist Rotary hierzulande nicht nur so groß, sondern auch so leistungsstark wie nie. Rotarier engagieren sich in zahllosen Projekten und Initiativen auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene: Vom Kindergarten am Rande der Stadt bis zur Bekämpfung von Armut und Hunger am anderen Ende der Welt, von der Talentförderung in der örtlichen Musikschule bis zur Durchführung des weltweit größten nichtkommerziellen Jugendaustausches, von der lokalen Orientierung für Berufsanfänger bis zur Entwicklung ganzer unterentwickelter Regionen ist Rotary nicht nur ein unverzichtbarer, sondern auch ein gern gesehener Partner.

Mitgliedschaft kein Selbstläufer

Warum also sollte sich eine solche Organisation, die offenkundig auf solidem Fundament steht, vertiefte Gedanken über ihren künftigen Kurs machen? Eine allgemeine Antwort darauf gab bereits Friedrich Schiller. Sein Rat „Der kluge Mann baut vor“ aus dem „Wilhelm Tell“ wurde längst zum volkstümlichen Sprichwort. In der Tat zeigen die Beispiele anderer großer gesellschaftlicher Gruppen – wie Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen – einen dramatischen Trend: Hatten die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien im Jahre 1990 zusammen noch rund 2,3 Millionen Mitglieder, so waren es 2013 nur noch rund 1,3 Millionen. In etwa dem gleichen Zeitraum sank die Zahl der im DGB vereinten Arbeitnehmer von rund 11,8 Millionen (1991) auf etwa 6,1 Millionen (2013). Und die Zahl der Mitglieder in den beiden großen christlichen Kirchen sank parallel dazu von insgesamt rund 58 Millionen (1990) auf etwa 47,7 Millionen im Jahre 2012. Die Anziehungskraft gesellschaftlicher Organisationen hat dramatisch abgenommen. 

Wer genau hinsieht kann auch bei Rotary ein paar leise Anzeichen dafür erkennen, dass sich das starke Mitgliederwachstum der letzten Jahre nicht zwangsläufig fortsetzen muss. Konnte das Rotary Magazin im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts einen Auflagenanstieg von jährlich rund 1.500 Abonnements verzeichnen, so waren es in den letzten drei Jahren nur noch etwa 500 bis 1.000 neue Bezieher. Selbstverständlich geht es hier nicht darum, ob das Magazin ein paar Hefte mehr oder weniger verkauft. Doch ist die Auflagenkurve einer Zeitschrift, die von 100 Prozent der Mitglieder bezogen wird, ein deutlicher Indikator für die Entwicklung einer Organisation. 

Aufschlussreich sind auch die Zahlen des Beauftragten des Deutschen Governorrats für die Entwicklung der Mitgliedschaft, Peter Iblher, der sich mit der Frage auseinandergesetzt hat, wie lange Neumitglieder eigentlich bei Rotary verweilen. „Über ein Jahr betrachtet“, so Iblher, „werden Neuaufnahmen in Deutschland zu einem Viertel durch Todesfälle und 44 Prozent durch Austritte ‚aufgezehrt’, insgesamt ein Aderlass von knapp 70 Prozent. Es werden über drei Neuaufnahmen benötigt, um effektiv um ein Mitglied zu wachsen.“ In Österreich sind die Verhältnisse etwas günstiger. Doch auch hier werden statistisch etwas über zwei Neuaufnahmen benötigt, um netto um ein Mitglied zu wachsen. Zudem, so der DGR-Beauftragte weiter, stellt die Zahl von 876 Austritten in einem Jahr auch die lange Zeit gültige Behauptung „einmal Rotary, immer Rotary“ infrage. Ergo sollte auch der kluge Rotarier vorbauen.

Folgen des gesellschaftlichen Wandels

Um auch weiterhin gedeihen zu können, sollte sich Rotary in Deutschland und Österreich mit der Frage beschäftigen, welche Mitglieder diese Organisation künftig gewinnen möchte – und was Rotary ihnen bieten kann, damit sie sich für einen Beitritt entscheiden. Diese Herangehensweise mag für viele Freunde ungewohnt klingen. Rotarier zu werden war und ist seit Jahrzehnten eine Ehre. Wer von einem Club gefragt wurde, ob er beitreten wolle, der durfte sich an seinem Wohn- und Arbeitsort als herausragender Repräsentant seines Berufes fühlen, und nahm die Einladung entsprechend gern an. 

Doch die Zeiten haben sich geändert. Der demographische Wandel wird auch an Rotary nicht vorbei gehen. So wie auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr nur die Unternehmen die besten Bewerber aussuchen, sondern diese oftmals auch ihren Arbeitgeber auswählen können, so können junge Menschen künftig auch entscheiden, wo sie ihre freie Zeit für ehrenamtliches Engagement investieren möchten. In diesen Kontext gehört, dass sich in den vergangenen Jahren bekanntermaßen auch das Berufsleben dramatisch gewandelt hat. Wer heute in ein Unternehmen einsteigt, verweilt dort nicht mehr ein Leben lang. Und auch innerhalb der Jobs hat die Mobilität dramatisch zugenommen. Beides hat dazu geführt, dass die Bindung junger Ärzte, Rechtsanwälte, Manager, Unternehmensberater usw. an einen konkreten Ort deutlich abgenommen hat. 

Generation „Warum?“

Doch was bewegt die Nachwuchstalente von heute und Leistungsträger von morgen? Was erwarten sie vom Leben, und wie stellen sie sich ihr Engagement darin vor? In der Publizistik ist es üblich, Generationen prägnante Namen zu geben. Die „Flakhelfer“, „Baby-Boomer“ und Angehörigen der „Generation X“ prägen unsere Gesellschaft seit Jahrzehnten. Für Rotary sind gegenwärtig die Jahrgänge ab 1970 interessant, die jetzt um die vierzig Jahre alt sind und allmählich in den Fokus zahlreicher Clubs rücken. Für sie prägte der Journalist Florian Illies im Jahre 2000 den Begriff „Generation Golf“. In seinem gleichnamigen Buch zeichnete Illies das Bild einer Alterskohorte, die vor allem den von den Eltern erarbeiteten Wohlstand genießen wollte. Laut Illies verkörpere sie überwiegend eine gesellschaftlichen Entwicklungen gegenüber unkritische, dafür jedoch nach Konsum strebende „Ego-Gesellschaft“. Doch obwohl diese Eigenschaften nicht dem klassischen Anforderungsprofil Rotarys entsprechen, dürften die Clubs innerhalb dieser Kohorte immer noch genügend Männer und Frauen finden, die zu ihnen passen, hat letztlich doch auch die „Generation Golf“ im Wesentlichen die gleiche Prägung erfahren wie ihre Eltern und älteren Geschwister. 

Ganz anders verhält es sich mit der folgenden Bevölkerungskohorte. Diese wird gemeinhin „Generation Y“ genannt, wobei das namensgebende „Y“ gleichermaßen als Folgebuchstabe des „X“ und – da es im Englischen „why“ ausgesprochen wird – als Synonym für das Wort „warum“ interpretiert werden kann. Diese Generation ist die erste, die mit dem Internet und mobiler Kommunikation groß wurde, was sich bereits jetzt merklich in ihrer Verhaltenskultur niedergeschlagen hat. Freundschaften werden nicht mehr nur an einem Ort oder in einem Land gepflegt, sondern via Facebook, Skype und Co. quer über alle Grenzen und sozialen Gruppierungen hinweg. Das Berufsleben definiert diese Generation weniger über Status und Prestige als vielmehr über die Freude an der Arbeit. Generell steht der Job nicht mehr an erster Stelle des Interesses; er wird lediglich als Finanzierungsgrundlage eines Lebens gesehen, das möglichst viele individuelle Freiräume und Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung bieten soll. Und nicht zuletzt wird von jeder Arbeit erwartet, dass sie sinnstiftend ist.

Fragen an Rotary

Vielen altgedienten Rotariern, die ihr Leben als Pflichterfüllung gegenüber dem Beruf, der Familie und der Gesellschaft verstanden haben, dürfte diese lockere Einstellung zum Leben und zur Arbeit ein Graus sein. Andererseits sind Menschen, die materiell zufrieden sind mit dem, was sie haben, jedoch von jeder Beschäftigung erwarten, dass sie sinnvoll ist, nicht die schlechteste Klientel für Rotary. In jedem Falle dürfte es außer Frage stehen, dass sich der fundamentale Wandel, der sich in dieser Generation vollzogen hat, eines Tages auch auf Rotary und seine Clubs auswirkt – spätestens dann, wenn die entsprechenden Jahrgänge in die Führungspositionen von Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft usw. quasi von allein hineinwachsen. Wo Hierarchien und Prestige-Denken an Bedeutung verlieren, wo weltweit in Echtzeit kommuniziert wird, und wo nicht zuletzt auch die Bindungen an einen konkreten Ort relativiert werden, kann eine Organisation, die bis dato die führenden Repräsentanten eines Ortes oder einer Region um einen Tisch zum Essen versammelt und ein hohes persönliches wie finanzielles Engagement von ihnen erwartet, nicht einfach weitermachen wie bisher. 

Die Rotarier in Österreich und Deutschland tun gut daran, sich schon heute mit den Fragen der „Generation Y“ zu befassen. Und sich selbst sollten sie fragen, ob ihre Organisation in der bisherigen Form für die Leistungsträger von morgen überhaupt attraktiv ist. Konkret: Warum soll sich ein gut beschäftigter Software-Entwickler, die Inhaberin einer Multimedia-Agentur, der Betreiber eines erfolgreichen Online-Shops, eine junge Chefärztin oder der Gründer einer Rechtsanwaltskanzlei einmal wöchentlich zu einem festen Zeitpunkt mit den Vertretern völlig anderer Berufe treffen, dabei ein – oftmals überteuertes – Einheitsessen zu sich nehmen, und dafür auch noch einen hohen Mitgliedsbeitrag zahlen? Freunde finden sie auch im Sportverein, netzwerken können sie in Wirtschaftsverbänden und über Soziale Medien; und falls sie etwas Gutes tun möchten, können sie einem der zahlreichen Spendenaufrufe unzähliger karitativer Einrichtungen folgen. Vieles von dem, wofür Rotary steht, kann man andernorts preiswerter, unverbindlicher und mit weniger Aufwand haben. Angst zu haben braucht Rotary vor der Zukunft dennoch nicht. Doch sollte die Organisation – und zwar jeder Club für sich – durchaus ihr Profil schärfen, damit sie auch weiterhin im Wettbewerb um die besten Köpfe nicht das Nachsehen hat. Der Schlüssel für Rotarys Zukunft liegt darin, auch den Angehörigen der „Generation Y“ und allen nachfolgenden zu erklären, dass das „Mehr“ an Zeit, Mühen und Kosten, das die einzigartige Verbindung aus Freundschaft und Service gemeinhin erfordert, auch für sie ein „Mehr“ an Erfüllung in ihrem Leben bedeutet. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.