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Projekt

Ein sicherer Hafen für Obdachlose

Angalia Bianca lebte jahrelang auf der Straße. Sie übernachtete in verlassenen Gebäuden in Chicago, sie stahl und sie war drogenabhängig. Immer wieder kam sie ins Gefängnis. Doch nach dem siebten Aufenthalt für Delikte wie Fälschung, Diebstahl und ähnliches trat eine Änderung ein -- Bianca wollte sich bessern, Sie wollte ein besseres Leben führen. Sie wusste bloß nicht, wie.

14.04.2014

Nach ihrer Entlassung suchte Bianca eine örtliche Organisation für Obdachlose mit dem Namen Safe Haven (Sicherer Hafen) auf. Sie kam in deren Asyl unter und sie hielt sich streng an die Vorgaben: Teilnahme an Drogenberatungen, Treffen für Suchtabhängige, und Drogentest sowie Engagement bei allen freiwilligen Tätigkeiten.

"Man brachte mir wesentliche Lebensfertigkeiten bei", sagt sie heute. "Ich wusste nicht, wie ich morgens aus dem Bett kommen sollte, ich wusste nicht, wie man eine Küche sauberhält. Sie brachten mir all die kleinen Dinge des Alltags bei, die für die meisten Leute selbstverständlich sind."

Safe Haven ist ein Netzwerk von mittlerweile 28 Hilfsstellen für Obdachlose in Chicago. Hier finden Bedürftige, selbst ganze Familien, die aus den verschiedensten Gründen auf der Straße gelandet sind, sei das der Verlust von Job und Wohnung oder die Wiedereingliederung nach einem Gefängnisaufenthalt, ein Refugium, in dem sie von ihren Abhängigkeiten geheilt werden und wieder Selbstwertgefühl entwickeln können. In den 20 Jahren des Bestehens durchliefen über 50.000 Menschen das Programm - die überwältigende Mehrheit davon mit Erfolg. Safe Haven gibt ihnen die Chance, die sie brauchen, um wieder den Anschluss an die Gesellschaft zu finden.

Das bedeutet natürlich, dass neben dem Entzug auch eine Lebensperspektive entwickelt werden muss, die auf persönlicher Unabhängigkeit beruht. Dies wird realisiert durch ein umfangreiches Ausbildungssystem der angeschlossenen gemeinnützigen Gesellschaft, über die Absolventen sich Existenzen aufbauen können. Die Berufssparten reichen dabei vom Gartenbau über Catering bis zur Schädlingsbekämpfung. Das Programm setzt bewusst auf Selbstheilungskräfte - und der Erfolg gibt ihm Recht. Es sei die größte Belohnung, den Stolz und Enthusiasmus in den Augen derjenigen zu sehen, die es geschafft haben, wieder aufzustehen, sagen die beiden Betreiber der Beratungszentren.

Eine persönliche Story

Und damit sind wir bei den Gründern der Initiative. Weder Neli Vazquez-Rowland noch ihr Ehemann Brian Rowland hätten es sich je träumen lassen, dass dies einmal ihre Lebensaufgabe sein würde. In den 90er Jahren verfolgten beide eine erfolgreiche Karriere im Investment Banking und wurden schnell reich. Doch dann nahm ihr Lebensweg abrupt eine andere Richtung, nämlich als Rowland alkoholsüchtig wurde. Natürlich konnte sich das Ehepaar die beste und teuerste Entzugstherapie leisten, doch wurde ihnen nach der Heilung von Brian schnell klar, was für ein Privileg das war. Diejenigen, die sich keine solche Therapie leisten konnten, die Armen der Gesellschaft, mussten fast unweigerlich in den Teufelskreis von Sucht, Armut und Kriminalität geraten.

Also beschlossen die beiden 1994, ein altes Gebäude in einer der schlimmsten Gegenden Chicagos zu kaufen und zu renovieren, um dort eine Anlaufstelle für Bedürftige einzurichten. Ursprünglich war der Plan, ein Zentrum für einige Jahre zu betreiben und dann vielleicht das Haus gewinnbringend zu verkaufen. Dazu kam es natürlich nie.

Es klopften so viele Menschen an der Tür, dass an ein Aufhören nicht zu denken war. Doch nachdem das Ehepaar Vasquez- Rowland in den ersten Jahren den Betrieb des Centers aus eigenen Mitteln finanzierten, wurde es klar, dass eine nachhaltigere Lösung gefunden werden musste. Angesichts der Erfolge der Anlaufjahre und ausgestattet mit einer Studie der Northwestern University, die die entsprechenden empirischen Daten lieferte, gelang es den beiden 1999, einen Vertrag mit den Strafvollzugsbehörden des Staates Illinois zu schließen, in dem sie als Rehabilitationseinrichtung für nicht gewalttätige Straffällige anerkannt wurden.

Das war auch der Moment, an dem die beiden einen "Moment der Wahrheit" erleben mussten, wie Leli es ausdrückt: bisher waren sie weiterhin erfolgreich in der Investment-Branche, doch nun waren Leli und Brian an einem Scheideweg: sind wir Investment-Banker oder Lebenshelfer?

Die Antwort auf die Lebensfrage erhält man, wenn man heute in eines der 28 Beratungszentren geht - in Gebäuden, die die beiden gekauft haben, in Stadtteilen, in die sich sonst kein Investor traut. Überall wird Leli mit dem Vornamen begrüßt, und auch sie kennt alle mit dem Vornamen. Eine ältere Frau verabschiedet sich, um in ihre erste eigene Wohnung zu ziehen. Ein Teenager umarmt sie in der Cafeteria, weil sie, wie er sagt, sein Leben gerettet hat. Und dann sieht man auch in ihren Augen etwas, von dem sie vorher gesprochen hat: Stolz.

 

Aus The Rotarian, Februar 2014