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Buch der Woche

Das Leben der verbotenen Schriftsteller

Ein belgischer Badeort mit Geschichte und Glanz: Hier kommen sie alle noch einmal zusammen, die im Deutschland der Nationalsozialisten keine Heimat mehr haben. Stefan Zweig, Joseph Roth, Irmgard Keun, Kisch und Toller, Koestler und Kesten, die verbotenen Dichter. Volker Weidermann erzählt von ihrer Hoffnung, ihrer Liebe, ihrer Verzweiflung – und davon, wie ihr Leben weiterging.

01.08.2014

Es ist Sommer hier oben am Meer, die bunten Badehäuser leuchten in der Sonne. Stefan Zweig sitzt im dritten Stock eines weißen Hauses am breiten Boulevard von Ostende in einer Loggia. Er schaut aufs Meer. Davon hat er immer geträumt, von diesem großen Blick in den Sommer, in die Leere, schreibend und schauend. Ein Stockwerk über ihm wohnt seine Sekretärin Lotte Altmann, die seit zwei Jahren auch seine Geliebte ist, sie wird gleich herunterkommen und die Schreibmaschine mitbringen, er wird ihr seine Legende diktieren, dabei immer wieder zurückkehren zu der einen Stelle, an der es stockt, an der er nicht weiterweiß. Seit einigen Wochen geht das schon so.

Vielleicht weiß Joseph Roth ja Rat. Der alte Freund, den er nachher im Bistro treffen wird, wie jeden Nachmittag in diesem Sommer. Oder einer der anderen, einer der Spötter, einer der Kämpfer, einer der Zyniker, einer der Liebenden, einer der Sportler, einer der Trinker, einer der Redner, einer der schweigenden Betrachter. Einer von denen, die da unten sitzen, am Boulevard von Ostende, die darauf warten, dass sie in ihre Heimat zurückkehren können. Die sich jeden Tag den Kopf zermartern über der Frage, was sie dazu beitragen können, dass sich die Welt schon bald in eine andere Richtung dreht. Damit sie heimkehren können in das Land, aus dem sie stammen, um dann eines Tages vielleicht auch wieder hierherzukommen. An diesen Ferienstrand. Als Gäste. Jetzt sind sie Menschen auf der Flucht in einer Urlaubswelt. Der scheinbar immer frohe Hermann Kesten, der Prediger Egon Erwin Kisch, der Bär Willi Münzenberg, die Champagnerkönigin Irmgard Keun, der große Schwimmer Ernst Toller, der Stratege Arthur Koestler, Freunde, Feinde, von einer Laune der Weltpolitik in diesem Juli hierher an den Strand geworfene Geschichtenerzähler. Erzähler gegen den Untergang.

Stefan Zweig im Sommer 1936. Er blickt durch die großen Fenster auf das Meer und denkt mit einer Mischung aus Rührung, Scheu und Freude an die Gemeinschaft der Fliehenden, zu der er sich gleich wieder hinzugesellen wird. Sein Leben war bis vor wenigen Jahren ein einziger, viel bewunderter, viel beneideter Aufstieg. Jetzt hat er Angst, er fühlt sich gebunden durch Hunderte Verpflichtungen, Hunderte unsichtbare Fesseln. Es gibt keine Lösung, gibt keinen Halt. Aber es gibt diesen Sommer, in dem sich alles noch einmal wenden soll. Hier, an diesem überbreiten Boulevard mit den prachtvollen weißen Häusern, dem großen Casino, diesem phänomenalen Palast des Glücks. Urlaubsstimmung, Ausgelassenheit, Eiscreme, Sonnenschirme, Trägheit, Wind und bunte Bretterbuden. Es ist lange her, seit er zum ersten Mal hier gewesen ist, an diesem Ort, an dem das Unglück 1914 begonnen hatte; mit den Nachrichten, den Zeitungsjungs an der Strandpromenade, die jeden Tag aufgeregter geschrien hatten, aufgeregter und freudiger, weil sie das Geschäft ihres Lebens machten.

Vor allem die deutschen Badegäste hatten ihnen die Blätter aus den Händen gerissen. Die Jungs brüllten die Schlagzeilen heraus: »La Russie provoque l’Autriche «, »L’Allemagne prépare la mobilisation «. Und auch Zweig – blass, gut gekleidet, mit dünnrandiger Brille – war deswegen mit der Straßenbahn herübergekommen, um den Nachrichten näher zu sein. Die Schlagzeilen wirkten elektrisierend auf ihn, er fühlte sich angenehm aufgewühlt und erregt. Natürlich war ihm klar, dass die ganze Aufregung nach kurzer Zeit wieder der großen Stille gewichen sein würde. Aber in diesem Moment wollte er es einfach nur genießen. Die Möglichkeit eines großen Ereignisses. Die Möglichkeit eines Krieges. Die Möglichkeit einer grandiosen Zukunft, einer Welt in Bewegung. Seine Freude war besonders groß, wenn er in die Gesichter seiner belgischen Freunde blickte. Sie waren blass geworden in den letzten Tagen. Sie waren nicht bereit, das Spiel mitzuspielen. Sie schienen die ganze Sache irgendwie sehr ernst zu nehmen. Stefan Zweig lachte. Er lachte über die mickrigen Trupps belgischer Soldaten auf der Promenade. Lachte über ein Hündchen, das ein Maschinengewehr hinter sich herzog. Lachte über den ganzen heiligen Ernst seiner Freunde.

Er wusste, dass sie nichts zu befürchten hatten. Er wusste, dass Belgien ein neutrales Land war, er wusste, dass Deutschland und Österreich niemals in ein neutrales Land einfallen würden. »An dieser Laterne könnt ihr mich aufk nüpfen, wenn die Deutschen hier einmarschieren «, rief er den Freunden zu. Sie blieben skeptisch. Und mit jedem Tag wurden ihre Mienen düsterer.

Wo war sein Belgien plötzlich hin? Das Land der Vitalität, Kraft, Energie und eines intensiven, eines anderen Lebens. Das war es, was er an diesem Land, an diesem Meer so liebte. Und weshalb er den größten Dichter des Landes so verehrte.

Émile Verhaeren war die erste geistige Liebe in Zweigs Leben gewesen. Bei ihm hatte er als junger Mann zum ersten Mal den Gegenstand vorbehaltloser Bewunderung gefunden. Verhaerens Gedichte hatten Stefan Zweig erschüttert wie nichts zuvor. An ihnen hatte er seinen eigenen Stil geschult, sie zunächst nachgeahmt, dann nachgedichtet, später Gedicht für Gedicht ins Deutsche übertragen. Er war es, der Émile Verhaeren in Deutschland und Österreich bekannt gemacht hatte und 1913 ein schwärmerisches Verehrungsbuch über ihn im Insel- Verlag veröffentlichte. Darin schrieb er: »Und darum ist es heute an der Zeit, von Émile Verhaeren zu reden, dem Größten und vielleicht dem Einzigen der Modernen, die das bewußte Gefühl des Zeitgenössischen dichterisch empfunden, dichterisch gestaltet haben, dem Ersten, der mit unvergleichlicher Begeisterung und unvergleichlicher Kunst unsere Zeit zum Gedichte versteinert hat.«

Auch wegen dieser Begeisterung Verhaerens, dieser Lebensfreude, seines Vertrauens in die Welt, war Stefan Zweig Ende Juni nach Belgien gefahren, ans Meer. Um seine eigene Begeisterung an Verhaerens Begeisterung zu stärken. Und um den zu sehen, der das gedichtet hatte, was Stefan Zweig ins Deutsche übertrug. Wie zum Beispiel Die Begeisterung, die so beginnt:

Wenn wir einander unentwegt Bewundrung zollen
Aus unsrer Herzen tiefster Glut und Gläubigkeit,
So werdet ihr, die Denker, Dichter, ihr, die Meister,
Die neue Formel finden für die neue Zeit.

Es sind Hymnen an das Leben. Traumlandschaften. Mit hellem Blick so lange die Welt betrachten, bis sie sich ganz von selbst erhellt und dem Gedicht entspricht, das sie gepriesen hat. Und diese Liebe zur Welt, dieser Enthusiasmus waren hart erkämpft. Einer dunklen Wirklichkeit mühsam abgerungen.

Ich liebe meinen Fieberblick, mein Hirn, die Nerven,
Im Herzen und im Leib des Blutes warmes Raunen,
Ich liebe Mensch und Welt und will die Kraft
bestaunen,
Die meine Kräfte spendend in das Weltall werfen.

Denn Leben heißt allein: Empfangen und Verschwenden,
Und nur die Sehnsuchtswilden haben mich begeistert,
Die auch so gierig standen, keuchend und bemeistert
Vom Leben und von seiner Weisheit roten Bränden.

Zwei Sehnsuchtswilde hatten sich gefunden. Émile Verhaeren und Stefan Zweig. Wie freute sich der junge Österreicher auf die Gespräche mit dem emphatischen Meister.

Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger hatte an seinen Reiseplänen nichts geändert. Die Welt der Sicherheit schien sicher für alle Zeiten. Krisen hatte Stefan Zweig so manche erlebt. Diese war wie alle anderen. Sie würde vorübergehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Wie das ganze bisherige Leben.

Für den zweiten August war ihr Treffen eigentlich vereinbart, aber dann liefen sie sich doch schon vorher über den Weg, zufällig, als Zweig dem Maler Constant Montald in seinem Studio in Brüssel Modell saß und Verhaeren vorbeikam. Die Begrüßung und Unterhaltung war herzlich wie immer. Ein wenig unheimlich schien dem bärtigen Belgier der überschäumende Enthusiasmus Zweigs zu sein. Aber er ließ ihn sich gefallen. Bald wollten sie sich wiedersehen und intensiv über alles reden, über neue Gedichte, neue Dramen und über die Liebe auch, die neuen Damen. Zweigs Thema.

Vorher aber, schlug Verhaeren angesichts der Begeisterung des jungen Österreichers vor, könne Zweig doch einen Freund von ihm treffen, oben in Ostende. Einen etwas wunderlichen Freund, gab Verhaeren zu. Er lasse sich gern beim Flötenspiel auf den Dächern seiner Heimatstadt fotografieren, er sei auch Maler, außerdem Maskenbauer und Karikaturist, nicht sehr erfolgreich bislang, eigentlich überhaupt nicht. Seine erste Ausstellung habe im Teppichgeschäft eines Freundes stattgefunden. Einmal im Jahr veranstalte er einen Maskenball, bei dem er mit seinen Freunden kostümiert durch die ganze Stadt ziehe. Er nenne ihn ›Den Ball der toten Ratten‹. Jedes Jahr kämen mehr Leute dazu. Der Mann heiße James Ensor. Verhaeren gab Zweig die Adresse und ein Empfehlungsschreiben mit.

Und Zweig ging hin. Zum Geschäft von Ensors Mutter, gleich hinter der Strandpromenade. Sie verkaufte Karnevalsmasken und Muscheln und Seemannsbilder und getrocknete Seesterne. Ein schmales Haus mit großem Schaufenster unten, in dem die sonderbaren Waren an durchsichtigen Fäden hingen. Zweig trat ein. Ja, ihr Sohn sei oben, er solle doch einfach hinaufgehen. Ein dunkler, enger Flur mit roten Teppichläufern, hämisch grinsende Masken an den Wänden des Treppenhauses. An einer winzigen Küche ging er vorbei, rote Emailletöpfe auf dem Herd, ein tropfender Wasserhahn. Im zweiten Stock saß ein Mann mit Schiebermütze am Klavier, spielte leise vor sich hin, schien nichts um sich herum zu bemerken. Über dem Klavier hing ein riesiges Gemälde an der Wand, Hunderte Menschen mit irren Masken drängten sich darauf, strebten zu einem unbekannten Ziel. Die künstlichen Gesichter waren grellbunt, mit langen Nasen und leeren Augen. Ein Totenball, ein Volksfest zum Tode, eine gemeinschaftliche Raserei. Zweig starrte wie gebannt. Das war nicht sein Belgien. Hier wohnte der Tod, hier wurde er gefeiert. Auf dem runden Tisch stand ein großer Strauß aus verstaubten Gräsern in einer Vase. Rechts auf dem Kaminsims eine weitere Vase mit chinesischen Malereien, darauf saß ein Totenkopf, lachend, ohne Zähne, der einen Damenhut trug, auf dem vertrocknete Blumen steckten.

Der Mann am Klavier spielte weiter vor sich hin, summte dazu. Stefan Zweig stand eine Weile wie gelähmt, dann drehte er sich um und floh die engen roten Stufen hinab, durch den Muschelladen, auf die Straße, in die Sonne, zurück ins Licht. Er wollte weg von hier, schnell wieder sorglos sein, etwas essen, die Fassung wiederfinden.

Er eilte zu seiner Begleiterin. Sie hieß Marcelle und war mit ihm zusammen hergekommen. Eine phantastische Frau. Nichts zum Heiraten, um Himmels willen nein, es war eher eine novellistische Sache. Eine Geschichte, über die man später einmal würde schreiben können. Eine plötzliche, unerwartete Intensität des Lebens, ein Hinabstürzen, Hinaufstürzen. Eine jähe, umwerfende Leidenschaft. Eine Stefan- Zweig-Geschichte. Erlebt, um sie zu beschreiben.

Seine ernste Liebe, Friderike von Winternitz, war zu Hause in Österreich geblieben. Sie stellte keine Ansprüche an ihn, konnte keine stellen, denn sie war verheiratet mit einem anderen Mann. Und so schrieb sie Zweig nach Ostende, dass er sich schön amüsieren solle mit der kleinen Freundin. Und den Sommer genießen. Den herrlichen Sommer 1914, an den Stefan Zweig auch in späteren Jahren immer denken wird, wenn er das Wort »Sommer « ausspricht. Die zwei Frauen, die Sonne, das Meer, die Drachen in der Luft, Badegäste aus aller Welt, der verehrte Dichter, ein sich langsam leerender Strand.

Die deutschen Urlaubsgäste verließen als Erste das Land, dann auch die Engländer. Zweig blieb. Seine Erregung wuchs. Am 28. Juli erklärte Österreich Serbien den Krieg, an der Grenze zu Russland waren die Truppen aufmar schiert. Jetzt musste auch Stefan Zweig langsam einsehen, dass es ernst werden könnte. Er kaufte sich eine Fahrkarte für den Ostende- Express am 30. Juli. Es war der letzte Zug, der Belgien in diesem Sommer in Richtung Deutschland verließ.

Alle Waggons waren überfüllt, die Menschen standen auf den Gängen. Jeder kannte ein anderes Gerücht. Jedes wurde geglaubt, und als sich der Zug der deutschen Grenze näherte und plötzlich auf offener Strecke stehen blieb und Stefan Zweig Lastzüge sah, die ihnen entgegenkamen, alle mit Planen bedeckt, und darunter die Umrisse von Kanonen zu erkennen glaubte, begann er allmählich zu begreifen, wohin dieser Zug fuhr. Er fuhr in den Krieg, der jetzt nicht mehr aufzuhalten war. *

Stefan Zweig fuhr in einen Taumel hinein. Er schrieb alles auf, sofort, exakt und rasend in sein Tagebuch, das er wieder zu führen begann. Er konnte nicht mehr schlafen, er bebte, er schrieb: »Ich bin ganz zerbrochen, ich kann nichts essen, meine Nerven flimmern. « Er schämte sich vor seinen Freunden, als er auch am dritten August noch nicht einberufen worden war. Selbst Hofmannsthal war schon einberufen. Vor allem schämte er sich vor den Frauen. Er spürte ihre Blicke. Was tust du noch hier, junger Mann, schienen sie zu fragen. Er wusste es selbst nicht.

Er tat Kriegsdienst am heimischen Schreibtisch, beschrieb für die Zeitung seine Heimfahrt in den Krieg und rechtfertigte sich vor sich selbst in seinem Tagebuch, dass nur die allerletzten Zeilen seines Artikels ein wenig gelogen seien. »Nie ist mir Wien liebenswerter erschienen «, schrieb er für die Zeitung, »und ich freue mich, gerade in dieser Stunde den Weg zu ihr gefunden zu haben. « Im Tagebuch dagegen: »Wien war consterniert, als ich am 31. Juli dort eintraf. Die Leute umstanden stundenlang die Einberufungsordre, die in einem erbärmlichen Deutsch abgefaßt, total unverständlich war. Am Abend versuchten einige auf Enthusiasmus zu machen, Kriegervereine, aber es klang schon recht matt.«

Kleine Lügen. Es war Krieg. Die Wahrheit war tot.
Dennoch glaubte Zweig jedes Wort, das er in den deutschen und österreichischen Zeitungen las: Vergiftete Brunnen in Deutschland, wehrlose Deutsche werden an Mauern gestellt und erschossen. Und dann, am vierten August, eine Nachricht, die ihn traf wie ein Blitz. Deutschland ist in Belgien einmarschiert! Ist das Irrsinn oder Genialität? Er konnte nicht glauben, dass das gut gehen würde. Deutschland und Österreich kämpften gegen die ganze Welt. Stefan Zweig wollte am liebsten schlafen, ein halbes Jahr lang, um diesen Untergang nicht mitzuerleben. Er zitterte am ganzen Körper. Nicht um die Freunde in Belgien, nicht um ein kleines, neutrales Land, in das die deutschen Truppen einmarschiert waren, um schneller nach Paris zu gelangen. Nicht um sein Belgien, jenes herrliche Land der Vitalität, Völkermischung, Lebensfreude, Sinnenfreude, das er in seinem Verhaeren- Buch ein Jahr zuvor als Verkörperung des wahren Europa gefeiert hatte, das all den Invasoren der Jahrhunderte heldenhaft widerstanden hatte. »Sie wollten damals nichts als ihr helles, heiteres Leben beibehalten, den freien, dionysischen Genuß, das Imperium der begehrlichen Sinne, wollten ihr Übermaß als Maß sich bewahren. Und das Leben hat mit ihnen gesiegt. « Sein Belgien. Es war ihm längst egal. Zweig zitterte jetzt nur noch um Deutschland. Und um Österreich.

Er raste durch die Straßen Wiens auf der Suche nach neuen Nachrichten, neuen Gerüchten, neuen Siegesmeldungen der deutschen Armee. Hieß es plötzlich, am Kriegsministerium werde in wenigen Minuten ein großer Sieg verkündet, eilte er mit Tausenden Wienern hinüber. Sie schwirrten um die erleuchteten Fenster wie Insekten in der Nacht. Und wieder kein Sieg. Wieder eine Nacht ohne Schlaf.

Stefan Zweig wollte hinaus, ins Feld. Er ließ sich einen Bart stehen, um entschlossen zu wirken, wild und bereit zum Kampf. Am Tag des deutschen Einmarsches in Belgien machte er sein Testament. Er nahm eine große Summe Geld aus dem Safe seiner Bank. Er schrieb in sein Tagebuch: »Die deutschen Siege sind herrlich! « Er fieberte. Er jubelte. Er schrieb: »Endlich freie Luft!« Und wie sehr er Berlin seinen Jubel neidete.

Auch viele Jahre später, als er längst weltbekannter Pazifist, weltbekannter Schriftsteller geworden ist und weitere Weltuntergänge erlebt hat, schreibt er in sein Erinnerungsbuch Die Welt von Gestern, dass er trotz aller Abscheu, trotz allem Hass gegen den Krieg diese Tage im August niemals missen möchte. Alles ist in diesen Tagen zerbrochen. Für immer und unwiederbringlich zerbrochen. Doch es war ein großer Moment. »Wie nie fühlten die Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: daß sie zusammengehörten. «

Zweig schrieb Verehrungsbriefe an Ida Dehmel, die Ehefrau Richard Dehmels, dem eifrigsten Kriegsfreiwilligen unter den deutschen Dichtern, der sich schon in den ersten Kriegstagen nicht nur im Felde, sondern auch am Schreibtisch mit besonders feurigen, nationalistischen Kriegsgedichten hervorgetan hatte. »Wäre Vernichtung des Staates auch das Ende dieser ewigen herrlichen Anspannung unseres Volkes «, schrieb Zweig an Frau Dehmel, »diese Gedichte allein müßten uns dankbar sein lassen für Gefahr und alle innere Not.«

Was für ein Unglück nur, dass die andere Seite zurückdichtete. Es war der neunte November, an dem Zweig in seinem Tagebuch »eine kleine Katastrophe meiner Existenz « notierte. Denn sein Lehrer, Vater, Vorbild, sein großer belgischer Freund Verhaeren hatte auch gedichtet. Deutsche und österreichische Zeitungen druckten seine Verse zur Abschreckung ab. Es waren wohl die ersten auf Deutsch erschienenen Gedichte des Belgiers, die nicht Stefan Zweig übersetzt hatte. Zweig hatte früh von Verhaerens Plänen erfahren, über den Krieg zu schreiben. Und hatte ihn über den gemeinsamen Freund Romain Rolland beschworen, »nur Tatsachen dem Vers und damit Dauer zu geben, um deren Sicherheit er bezeugt weiß«. Doch Verhaeren machte jedes Schauergerücht über germanische Gräueltaten zu einer lyrischen Wahrheit. Vergewaltigte Jungfrauen, abgeschnittene Frauenbrüste, abgetrennte Kinderfüße in den Taschen der deutschen Soldaten. Alles im poetischen Ton des bildertrunkenen Lebensdichters, den Zweig so verehrte.

Wessen war Zeuge in Flandern, o welch traurige
Sonne,
Von Weibern in Flammen und Städten in Asche,
Von langem Entsetzen und jähem Verbrechen,
Nach denen der germanische Sadismus hungerte und
dürstete.

Stefan Zweig war fassungslos, an wen er da all seine Liebe, all seine Verehrung verschenkt hatte. Diese Zeilen stammten von demselben Mann, der für ihn das Beste Europas repräsentiert hatte, der ihn gelehrt hatte, »daß nur ein vollkommener Mensch ein guter Dichter sein kann«. Und Zweig fragte sich verzweifelt, ob vielleicht alles falsch gewesen war – das Fundament seines Lebens, Übersetzens und Dichtens.

Am schlimmsten an diesem Belgien- Gedicht war der Vorwurf der Barbarei. Die Behauptung, dass bei diesem deutschen Krieg nicht alles mit ehrenhaften, zivilisierten Mitteln vor sich ging. Der Krieg, so wie Stefan Zweig ihn sich vorstellte, war Heldentum und Opfermut für eine gute, notwendige Sache. Und auch die Feinde sollten gutes Benehmen zeigen. »So wäre mein höchstes Glück als Officier gegen einen civilisierten Feind reiten zu dürfen «, schrieb er, der Sohn eines Textilfabrikanten aus Wien, an seinen Verleger Kippenberg nach Deutschland. Zweig hatte sehr romantische Vorstellungen vom Krieg. Ein Herrenreiter mit feinen Manieren und Säbel im Sattel gegen zivilisierte Feinde, zum Beispiel gegen die Franzosen.

Er neidete den Deutschen in diesen Monaten nicht nur deren Siege, vor allem neidete er ihnen deren Feinde. Zweig wollte nicht gegen Russland kämpfen, nicht gegen Barbaren, Slawen, Zivilisationsfeinde. In dem Brief an seinen deutschen Verleger machte er außerdem deutlich, für wen er nicht unbedingt kämpfen mochte: jene Außenposten der Donaumonarchie, die in den ersten Kriegsmonaten die bedrohtesten waren. Die Gebiete nahe der russischen Grenze, in denen die Menschen polnisch, russisch oder jiddisch sprachen. Die unbekannten, fernen, etwas unheimlichen Ostgebiete. Zweig schrieb an Kippenberg: »Dies mag Ihnen erklären, warum von den Intellectuellen Österreichs kein einziger bisher sich freiwillig an die Front gemeldet hat, diejenigen, die durch ihre Stellung hingehörten, sich sogar zurücktransferieren ließen – auch fehlt uns jener Zusammenhang, den Sie wohl verstehen. Brody ist mir nicht so viel wie Insterburg, hier blieb ich kühl, dort zitterte ich es verwüstet zu wissen! Es gibt doch nur einen letzten, höchsten Zusammenhang, nur die Sprache ist Heimat im höchsten Sinne! «

Quelle: Volker Weidermann: Ostende. 1936 – Sommer der Freundschaft. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2014. 160 Seiten, 17,99 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten 5 bis 18.